Das Letzte Plädoyer: Roman
für die Staatsanwaltschaft halten.«
Langsam erhob sich Pearson von seinem Platz. »Ich frage mich, Euer Lordschaft«, stotterte er, »angesichts der ungewöhnlichen Umstände, ob Euer Lordschaft mir etwas mehr Zeit einräumen würden, um meine Schlussrede vorzubereiten. Dürfte ich vorschlagen, dass wir die Verhandlung auf heute Nachmittag vertagen, damit …«
»Nein, Mr. Pearson«, unterbrach der Richter. »Ich werde die Verhandlung nicht vertagen. Niemand weiß besser als Sie, dass es das Recht des Angeklagten ist, keine Aussage zu machen. Die Geschworenen und die Gerichtsbediensteten sind alle anwesend, und ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, wie voll der Terminplan des Gerichts ist. Bitte beginnen Sie jetzt mit Ihrem Schlussplädoyer.«
Pearsons Assistent zog eine Akte unter dem Stapel hervor und reichte sie seinem Chef. Pearson schlug sie auf. Er war sich bewusst, dass er in den letzten Tagen so gut wie keinen Blick in diese Akte geworfen hatte.
Er starrte auf die erste Seite. »Meine Damen und Herren Geschworenen …«, fing er stockend an. Bald wurde offensichtlich, dass Pearson ein Mann war, der sich ganz darauf verließ, gut vorbereitet zu sein, und dass spontanes Denken nicht zu seinen starken Seiten gehörte. Er stolperte beim Ablesen seines Plädoyers von Absatz zu Absatz, bis sogar sein Assistent nicht mehr folgen konnte.
Alex saß stumm am anderen Ende der Bank und konzentrierte sich ganz auf die Geschworenen. Sogar diejenigen, die für gewöhnlich sehr aufmerksam waren, wirkten gelangweilt. Ein oder zwei unterdrückten gelegentlich ein Gähnen, rissen ihre glasigen Augen auf, bis sie gleich darauf wieder zufielen. Als Pearson zwei Stunden später seine letzte Seite erreichte, war Alex beinahe eingeschlafen.
Schließlich ließ sich Pearson auf die Bank fallen. Richter Sackville schlug vor, dass dies ein günstiger Zeitpunkt für eine Mittagspause sei. Kaum hatte der Richter den Saal verlassen, sah Alex zu Pearson, der seine Wut nur mühsam beherrschen konnte, nachdem er vor einem premierenverwöhnten West-End-Publikum eine Provinztheaterposse geboten hatte.
Alex griff sich seinen dicken Aktenstapel und eilte aus dem Gerichtssaal. Er rannte den Flur entlang und die Treppe hinauf zu einem kleinen Raum im zweiten Stock, den er am Morgen für sich hatte reservieren lassen. Darin befanden sich nur ein Tisch und ein Stuhl, es hing nicht einmal ein Bild an der Wand. Alex öffnete seine Akten und ging seine Zusammenfassung durch. Schlüsselsätze probte er immer wieder aufs Neue, bis er zuversichtlich war, dass die springenden Punkte den Geschworenen tief ins Gedächtnis gebrannt wurden.
Alex hatte einen Großteil der Nacht und der frühen Morgenstunden damit zugebracht, an jedem einzelnen Satz zu feilen, darum fühlte er sich gut vorbereitet, als er eineinhalb Stunden später in Gerichtssaal vier zurückkehrte. Er traf nur wenige Augenblicke vor Richter Sackville ein. Sobald Ruhe eingekehrt war, fragte ihn der Richter, ob er für sein Schlussplädoyer bereit sei.
»Ja, das bin ich, Euer Lordschaft.« Alex goss sich noch ein Glas Wasser ein. Er schlug seine Akte auf, sah hoch und nahm einen Schluck.
»Meine Damen und Herren Geschworenen«, fing er an, »Sie haben gehört, wie …«
Alex brauchte für sein Schlussplädoyer nicht so lange wie Mr. Pearson, aber für ihn war das ja auch keine Generalprobe. Er hatte keine Ahnung, wie seine Argumente bei den Geschworenen ankamen, aber wenigstens schlief keiner ein, und einige machten sich sogar Notizen. Als sich Alex eineinhalb Stunden später wieder setzte, hatte er das Gefühl, auf die Frage seines Vaters, ob er seinen Mandanten nach besten Kräften vertreten hatte, mit Ja antworten zu können.
»Danke, Mr. Redmayne«, sagte der Richter und wandte sich dann an die Geschworenen. »Ich denke, das reicht für heute«, meinte er. Pearson sah auf seine Uhr. Es war erst 15 Uhr 30. Er hatte angenommen, dass der Richter noch mindestens eine Stunde lang zu den Geschworenen sprechen würde, aber nun zeigte sich, dass auch er von Alex Redmaynes morgendlichem Hinterhalt überrascht worden war.
Der Richter erhob und verbeugte sich, dann verließ er wortlos den Gerichtssaal. Alex drehte sich um und tauschte einige Worte mit seinem Kollegen, als ein Gerichtsdiener Pearson einen Zettel reichte. Nachdem Pearson ihn gelesen hatte, sprang er auf und eilte aus dem Gerichtssaal, dicht gefolgt von seinem Assistenten. Alex wollte dem Angeklagten auf der Anklagebank
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