Das letzte Sakrament
letzte Mal im Alter von elf Jahren schwarzgefahren. Prompt war er erwischt worden. Als Strafe hatte er in seinem Waisenheim eine Woche lang die Toiletten putzen müssen, eine mehr als heilsame Erfahrung. Doch jetzt er hatte keine andere Wahl. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass auch die Zugschaffner streikten.
Er rannte zu den Bahnsteigen und suchte nach Gleis 24. Er erreichte Gleis 7, sah die Nummer 8 und blickte weiter nach rechts. Mierda! Sein Zug fuhr von einem der Nebengleise ab! Gehetzt blickte er auf die riesige Bahnhofsuhr über ihm, deren Zeiger gerade auf 7:19 vorrückte. 7:19, die Abfahrtszeit seines Zuges.
Pandera wollte fluchen, doch er sparte sich den Atem und rannte los. Bei einem Amateurclub in Basel hatte er eine Saison lang Rugby gespielt und dabei einiges einstecken müssen. Immerhin hatte er zu den wendigen und schnellen Spielern gehört. Doch ein Rugbymatch war nichts gegen das Chaos aus verzweifelten Reisenden, überforderten Bahnangestellten und hinterlistigen Taschendieben, die ihm hier im Weg standen. Er hielt seine Reisetasche wie einen Schutzschild vor seine Brust und kurvte durch die Lücken zwischen den Passagieren. Er schaffte die fünfhundert Meter Hindernislauf in knapp zwei Minuten, keine schlechte Zeit für einen dreißigjährigen Kommissar in Lederschuhen.
Kaum hatte er den Zug erblickt, sah er, wie der Schaffner in einer halb offenen Zugtür zur Abfahrt pfiff. Mit einem Knall schlossen sich die Türen. Zwei Minuten zu spät und doch zu früh. Aber Pandera rannte weiter. Als er den letzten Waggon erreichte, fuhr der Zug los. Mehr aus Verzweiflung als aus Hoffnung rüttelte er am Türgriff. Er ließ sich öffnen! Vielleicht war die italienische Bahn doch nicht so schlecht. Er warf seine Tasche in den Waggon und sprang hinterher.
Keuchend schloss er die Zugtür und blieb im Gang des Waggons stehen, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, wie ein Leichtathlet nach dem Zieleinlauf. Seine Lunge brannte, und doch musste er lachen. Er konnte gar nicht mehr aufhören.
Er wollte sich gerade einen Sitzplatz suchen, als er den Schaffner erblickte. Der kleine Mann in Uniform kam mit schnellen Schritten auf ihn zu und schimpfte so heftig, als wolle er den Kommissar aus dem fahrenden Zug werfen. Instinktiv griff Pandera in die Anzugtasche, doch dort befanden sich nur die Tickets für das Kreuzfahrtschiff.
64
Tamara Aerni blickte auf das Display ihres Mobiltelefons, als stamme es aus einer anderen Welt. Seit Tagen versuchte sie, mit dem Bischof zu sprechen, doch man hatte sie zuerst hingehalten, dann vertröstet und schließlich ihre Bitte abgelehnt. Daraufhin hatte sie sich dafür eingesetzt, den Bischof zum Verhör in den Waaghof vorzuladen, doch sowohl Edeling als auch der Staatsanwalt hatten dem nicht zugestimmt. Die katholische Kirche sei momentan schon genug unter Beschuss, sie wollten der Presse keine zusätzliche Munition liefern. Sie solle versuchen, das Gespräch auf dem kleinen Dienstweg zu organisieren. Als ob zwischen der katholischen Kirche und der Polizei ein kleiner Dienstweg verlief! Da taten sich inzwischen nur noch tiefe Abgründe auf, sonst gar nichts!
Die einen waren Hüter von Gesetz, Moral und Ordnung und die anderen nur ein korrupter Haufen geistig minderbemittelter Polizisten. So in etwa hatte die Absage geklungen, die Tamara von der Bistumsverwaltung erhalten hatte, natürlich diplomatischer formuliert.
Und jetzt stand auf ihrem Handydisplay, dass jemand vom Bistum anrief. Und es war nicht irgendein Mitarbeiter, sondern der Bischof persönlich. Die Kommissarin schloss die Tür zu ihrem Büro und nahm das Gespräch an.
»Hier ist Bischof Johann Obrist«, meldete sich eine heisere Stimme. Sie war so kraftlos wie schmelzendes Eis. Man konnte jedes seiner achtundsiebzig Jahre hören. Und noch ein paar mehr, die er sich in Form von Sorgen auf den Buckel geladen hatte.
»Hallo, Herr Bischof«, antwortete die Kommissarin. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie den Mann anreden sollte, und es war ihr auch egal. Sie war schließlich kein Mitglied in diesem Club, und sie wollte auch keines werden. »Was haben Sie auf dem Herzen?«
Die Stille, die folgte, sagte mehr als tausend Worte. Tamara wartete. Sie wusste, es war jetzt nicht an ihr zu sprechen.
Der Bischof seufzte. »Ich habe lange mit mir gerungen«, sagte er. »Aber ich denke, es ist unausweichlich.«
»Was ist unausweichlich?« Tamara kam sich vor, als säße sie im Beichtstuhl, allerdings mit vertauschten
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