Das letzte Treffen
neuer schwarzer
Audi steht auf dem Parkplatz vor dem Haus. Ganz eindeutig ein Hinweis
darauf, dass jemand zu Besuch gekommen ist. Obwohl Andri Ólafur
nicht zu Hause ist. Die Goldjungs?
Ich benutze die Schlüssel,
die der blasierte Bjarni bei sich gelagert hat, um die Haustür
aufzuschließen. Gucke mich in der Diele um. Ohne jemanden zu sehen.
Da verpasse ich der Tür
einen kräftigen Schubs. So dass sie mit einem lauten Krachen zufällt.
Das sollte genügen, um sogar Lazarus aus seinem Tiefschlaf zu
erwecken. Ich höre sofort Schritte von der oberen Etage.
»Hallo?«, rufe
ich. »Wer ist hier in der Wohnung?«
Raggi erscheint auf der
obersten Treppenstufe. In einem hellen Trenchcoat. Vorne offen.
»Was machst du denn
hier?«, frage ich.
Der beleibte Goldjunge stöhnt
schwer.
»Ich finde es natürlich
sehr nett, dich zu treffen und so«, fahre ich fort, »aber ich
dachte, die Hausdurchsuchung wurde am Montag abgeschlossen. Was hat sich
geändert?«
»Nichts.«
Raggi watschelt die Treppe
herunter.
»Warum seid ihr dann
hier?«
Ein anderer Goldjunge taucht
an der Treppe auf. Ein jugendlicher Knabe, den ich, soweit ich mich
erinnere, noch nicht gesehen habe: Er ist dünn wie eine Bohnenstange.
Durchtrainiert. Kurzhaarschnitt. Mit einem dunklen Anzug. Und einer
himmelblauen Krawatte um den Hals. In der linken Hand trägt er eine
dicke schwarze Aktentasche.
Ein öffentlicher
Amtsschimmel mit höheren Weihen. Klare Sache.
»Willst du uns nicht
vorstellen?«, frage ich.
»Tony ist bei der
Kriminalpolizei der US Navy.«
»Und?«
»Donald Garber war ein
amerikanischer Staatsbürger, und seine Leiche wurde in einem Gebiet
gefunden, das lange zur Nato-Base auf dem Keflaviker Flughafen gehört
hat. Sie haben bei den Ermittlungen Interessen zu wahren.«
»Seit wann untersteht
Seltjarnarnes der Gerichtsbarkeit der amerikanischen Marine?«
»Es ist völlig unnötig,
sich darüber aufzuregen«, antwortet Raggi bissig. »Wir
fanden es selbstverständlich, Tony den 'Wohnsitz des Verdächtigen
zu zeigen, das ist alles.«
»Hat er etwas aus der
Wohnung mitgenommen?«, frage ich und zeige auf die schwarze
Aktentasche.
»Nein«, sagt
Raggi.
Ich betrachte den
amerikanischen Goldjungen eingehend. Denke an Andri Olafurs Worte.
»Oder hat er vielleicht
etwas hinterlassen?«
Raggi setzt seine mir
altbekannte, missbilligende Miene auf. Schüttelt tadelnd den Kopf.
Trottet zur Haustür.
Der Ami folgt ihm.
Raggi dreht sich in der Tür
noch einmal um.
»Und was machst du
eigentlich hier?«, fragt er.
»Ich wurde beauftragt,
nach dem Haus zu sehen, während mein Klient in Einzelhaft sitzt.«
»Dann viel Spaß.
Wir sind hier fertig.«
Raggi marschiert mit schweren
Schritten auf den gepflasterten Bürgersteig. Tony bleibt ihm dicht
auf den Fersen.
»Tschü-hüüüs«,
sage ich und schließe die Tür.
Natürlich überrascht
es mich nicht, dass die Goldjungs ihren amerikanischen Kollegen erlauben,
ganz nach Laune herumzuschnüffeln. Die Beziehung der isländischen
Regierung zu den Amis war immer durch Unterwürfigkeit gekennzeichnet.
Hausherren und Knechte.
Als ich den Audi vom Haus
wegfahren höre, gehe ich die Treppe hinauf und in das Büro in
der oberen Etage. Wo ich meinen Klienten auch zum ersten Mal getroffen
habe.
Alles scheint noch so, wie es
war. Außer, dass der Schreibtisch völlig freigeräumt ist.
Ich setze mich in Andri
Ólafurs gemütlichen Sessel und versuche eine Schublade nach
der anderen zu öffnen. Einfach nur aus Neugier.
Sie sind nicht abgeschlossen.
Und leer.
Was natürlich mein Gefühl
bestätigt, das ich von Anfang an hatte: dass es sich eigentlich nicht
um ein Büro handelt. Sondern nur um ein großes, helles Zimmer,
das den Großteil des Jahres über unbenutzt ist. Wie auch das
ganze Haus.
Andri Ólafurs
Schlafzimmer liegt auf der anderen Seite des Flurs.
Er hat ein Doppelbett. Darauf
liegen zwei Bettdecken. Mit einem hellgrünen, einfarbigen Bettbezug.
Und vier Kissen passend bezogen.
Er hat vergessen, das Bett zu
machen.
Eine englischsprachige
Ausgabe des Ulysses von James Joyce liegt auf dem einen Nachttisch.
Es ist eine
Taschenbuchausgabe von Penguin. The Corrected Text steht unter dem Titel.
Auf dem inneren Umschlag klebt ein Aufkleber, der besagt, dass das Buch am
Bloomsday, dem 16. Juni 1986, gekauft wurde.
Und was ist daran so toll?
Ich
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