Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
lag nur noch wenige hundert Meter entfernt, und ihr Zug,
die schwarze Lok mit der langen Kette von Waggons, wartete dort auf sie. Gleich
würden sie einsteigen und diesen Ort verlassen. Fast war sie erstaunt, dass die
Polizisten und die gefangenen Eingeborenen nicht mehr da waren, aber wozu
hätten sie die ganze Nacht hier sitzen sollen? Dann entdeckte sie sie doch auf
einem offenen Pritschenwaggon. Die Eingeborenen waren an die Latten gekettet.
Zwei von ihnen standen, die übrigen hockten wohl auf dem Boden, denn nur ihr
schwarzes Haar war zu erkennen.
„Emma“, rief Paul; sie
war zwei Schritte hinter ihn zurückgefallen. „ Nun komm endlich, wir sind
sowieso schon die Letzten.“ Was macht man mit ihnen?, fragte sie sich beklommen
und stieg nur widerwillig hinter Paul die Stufen zur Plattform hinauf. Dort
drehte sie sich noch einmal um. Einer der gefangenen Eingeborenen sah ihr
direkt in die Augen. Aus dem Blick sprach nicht die Ablehnung des Metzgers,
nicht die Verachtung des Arztes, nicht die Triebhaftigkeit des Wirts ... Was
war es dann, was ihr einen solchen Schauer über den Körper jagte, dass sie sich
wie betäubt fühlte, dass sie nicht mehr Herr ihrer Gedanken und ihres Körpers
war? Sie stand einfach da und starrte in dieses Gesicht, das etwa zwanzig Meter
von ihr entfernt war, so weit, dass sie die Augen nicht genau erkennen konnte,
doch das Merkwürdige war, dass sie sich davon dennoch wie gebannt fühlte ...
Wenn Paul nicht
ungeduldig ihren Namen gerufen hätte, hätte sie dort oben auf der Plattform des
Waggons alles um sich herum vergessen. Sie bemerkte, dass sie den Bartletts im
Weg stand, die hinter ihr die Stufen heraufkamen. Hastig eine Entschuldigung
murmelnd, flüchtete sie in den geschlossenen Wagen. Schweigend und John Wittling
nur zunickend, der schon seinen Platz am Fenster eingenommen hatte, setzte sie
sich neben Paul und wandte sich zum offenen Fenster. Warum hatte sie der Blick
des Eingeborenen so verwirrt? Fühlte sie sich als Angehörige der weißen Rasse
schuldig am Schicksal der Eingeborenen? Oder war es die Angst vor dem
Fremdartigen? In der Sonne, hinter dem Bahnhof, leuchtete der Blechschuppen von
Dr. Brown auf.
Sie drehte sich zu Paul
um, der jedoch schon wieder in seine Lektüre vertieft war. Hatte er die
gefangenen Eingeborenen denn nicht bemerkt? Sie spürte, wie der Widerstand, den
sie letzte Nacht im Bett neben ihm empfunden hatte, stärker wurde. Sie setzte
sich aufrecht hin, faltete die Hände im Schoß und blickte darauf hinunter. Wie
erholt sie aussehen, dachte sie, sie hatte nicht kochen, nicht putzen müssen,
nur hin und wieder hatte sie ihre und Pauls Kleider ausgewaschen. Vielleicht
war es die Arbeit, die Beschäftigung mit einer wichtigen Aufgabe, die ihr
fehlte?
Die Lok stieß ihre
schrillen Pfiffe aus, schnaufte, ächzte, und dann setzte sich der Zug in
Bewegung. Das Bahnhofsgebäude ruckte an ihnen vorbei; ein paar Männer auf dem
Bahnsteig hoben die Hand. Emma wusste nicht, wen sie grüßten oder von wem sie
sich verabschiedeten. Weiter entfernt von den Häusern, an denen sie eben
vorübergegangen waren, konnte sie die Hütten und Kamele der Afghanen entdecken.
Und noch weiter entfernt standen die primitiven Eingeborenen-Hütten aus Ästen
und Rinden. Da, eine ganze Schar schwarzer Kinder lief auf den Zug zu. Wie ärmlich
sie gekleidet waren! Wenn sie überhaupt Kleider trugen. Da waren auch Kinder
von den Afghanen in weißen Pluderhosen, mit kleinen Turbanen. Emma winkte ihnen
, doch sie musste erstaunt erkennen, dass das Gejohle nicht ihr galt, sondern
einem Automobil mit einer Plane über der Ladefläche. Cinema stand in
weißen geschwungenen Lettern auf der roten Tür. Der Fahrer war ein Mann mit
dunklem Haar und einem vom Wetter und von der Sonne gegerbten, energischen
Gesicht, der um den Hals ein rotes Tuch gebunden hatte. Als der Zug vorbeifuhr,
begegneten sich ihre Blicke. Sie sah diesem fremden Mann nach, bis der Wagen
aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Plötzlich fühlte sie sich ohne jede
Hoffnung, als habe sie alles, was ihr und zu ihr gehörte, für immer verloren.
Verstreut lag es auf ihrem Weg durch dieses uralte Land; der Wind würde Sand
darüber wehen ... und alle Spuren
der Emma Reimann verwischen. Sie drehte sich um, weil sie das Gefühl hatte,
angestarrt zu werden. Doch Paul und John waren in ihre Bücher vertieft.
Den restlichen Tag
– immerhin mehr als zehn Stunden -
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