Das Licht der Phantasie
still gewesen.«
»Nein, das bist du nicht, du Blödmann!« entfuhr es Bethan. »Wir haben dich deutlich gehört und außerdem gesehen, wie sich deine Lippen bewegten!«
Rincewind schloß die Lider und beobachtete mit seinen inneren Augen, wie sich der Zauberspruch hinter dem Gewissen verkroch und leise vor sich hin murmelte.
»Na schön, schon gut«, stöhnte er. »Kein Grund, gleich zu schreien. Ich… ich weiß nicht, woher ich es weiß, aber ich weiß es einfach…«
»Könntest du uns das vielleicht genauer erklären?«
In diesem Augenblick kamen sie um eine Ecke.
In jeder Stadt am Runden Meer gab es ein Viertel, das allein den vielen Göttern der Scheibenwelt gewidmet war. Für gewöhnlich erweckten die Gebäude einen eher bescheidenen Eindruck und waren außerdem in architektonischer Hinsicht nicht sonderlich attraktiv. Den wichtigsten Göttern errichtete man natürlich besonders prächtige Tempel, und anschließend dauerte es nicht lange, bis die unwichtigeren auf ihre Rechte pochten. Darüber hinaus gesellten sich im Laufe der Zeit weitere heilige Entitäten zur bereits recht großen Götterfamilie und verlangten gleiche Behandlung von ihren Verehrern – manche Priester sprachen in diesem Zusammenhang von sakraler Emanzipation und theologischer Guerilla. Nun, aus dieser Entwicklung ergaben sich folgende Konsequenzen: Das Viertel (oder Dreiachtel, was eine angemessenere Bezeichnung gewesen wäre) bot sich als ein wirrer Komplex aus kleinen Anbauten, stummelförmigen Erweiterungen, zu Tempelzwecken umfunktionierten Wohnungen, Dachstubenkirchen, Keller-Beichtzentren, Andachtsplattformen, klerikalen Meditationsnischen, Gebetsbalustraden, HallelujaGalerien und Opfer-Alkoven dar. Normalerweise brannten mindestens dreihundert verschiedene Weihraucharten, und in den meisten Fällen erreichte der allgemeine Lärm Schmerzschwellen-Niveau, denn jeder Priester war ebenso eifersüchtig wie laut darauf bedacht, die Aufmerksamkeit möglichst vieler Gläubiger zu gewinnen.
In diesem besonderen Fall aber herrschte eine sonderbare Stille, die noch beunruhigender wirkte, weil sich Hunderte von furchtsamen und zornigen Menschen eingefunden hatten und auf irgend etwas zu warten schienen.
Ein Mann am Rande der Menge drehte sich um und warf den Neuankömmlingen finstere Blicke zu. Seine Stirn offenbarte das Symbol eines roten Sterns.
»Was…«, begann Rincewind und unterbrach sich sofort, da seine Stimme viel zu laut zu sein schien. »Was geht hier vor?«
»Seid ihr Fremde?« fragte der Mann.
»Nun, eigentlich kennen wir uns recht gut…«, erwiderte Zweiblum zögernd, sprach jedoch nicht weiter. Bethan deutete auf die Gebäude.
Jeder Tempel wies ein Sternzeichen auf, und das größte von allen zierte das steinerne Auge vor dem Tempel des Blinden Io, der als Oberhaupt aller Götter galt.
»Argh«, machte der Zauberer. »Io wird ziemlich sauer sein, wenn er das sieht. Ich glaube, wir sollten diesen Ort besser verlassen, Freunde.« Die vielen Männer und Frauen standen vor einer improvisierten Plattform in der Straßenmitte. Ein großes Tuch reichte bis zum Boden.
»Soweit ich weiß, sieht der Blinde Io alles, was geschieht«, meinte Bethan, »Zeitpunkt und Ort spielen keine Rolle. Warum hat er noch nicht…«
»Sei still!« sagte der Mann neben ihnen. »Jetzt spricht Dahoney!« Jemand kletterte auf die Plattform: ein schlanker hochgewachsener Mann mit löwenzahnartigem Haar. Die Menge jubelte nicht, gab nur ein kollektives Seufzen von sich. Kurz darauf erklang Dahoneys Stimme.
Rincewind hörte zu und spürte, wie das Grauen in ihm wuchs. Wo waren die Götter? fragte der Mann. Sie seien verschwunden. Vielleicht habe es sie nie gegeben. Wer könne behaupten, jemals einem Gott begegnet zu sein? Und nun komme der neue Stern als Verderbensbote…
In diesem Sinne fuhr die ruhige und gesetzte Stimme fort, benutzte Worte wie ›läutern‹ und ›reinigen‹ und ›säubern‹, die auf einen wachen Verstand ähnlich wirkten wie scharfe Schwertklingen auf einen ungeschützten Körper. Wo waren die Zauberer? Warum wirkte die Magie nicht mehr? Ob sie jemals funktioniert habe oder nur ein Traum gewesen sei…
In Rincewind entstand die Befürchtung, daß die Götter von diesem Gerede hörten und so zornig wurden, daß sie alle die menschlichen Sünder bestraften, die sich am blasphemischen Tatort aufhielten.
Aber selbst göttliche Wut wäre nicht annähernd so schlimm gewesen wie der Klang jener Stimme. Der Unheilsstern komme,
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