Das Lied der alten Steine
Stille folgte. »Warum?«
Er biss die Zähne zusammen. »Er hat meine Frau vergewaltigt.«
Anna schloss die Augen. Ihre Hände umfassten die Reling, bis die Knöchel weiß waren.
Neben ihr richtete Toby sich auf und starrte vorbei an den Lichtern, die das Flussufer säumten, in die Dunkelheit der Berge.
»Ich bedaure es nicht. Wenn ich’s nicht getan hätte, wäre er ungeschoren davongekommen. Es war die Art von Gerechtigkeit, die den Beifall der ägyptischen Götter gefunden hätte.«
Es folgte ein langes Schweigen. »Waren Sie im Gefängnis?«, fragte sie schließlich.
»Wegen Totschlags, ja.«
»Und Ihre Frau?«
Sie betrachtete sein Profil im Dunkeln.
»Meine Frau ist tot.«
»Tot!« Anna sah ihn entsetzt an.
»Sie hat sich das Leben genommen, während ich im Gefängnis war. Der Staat hat es sich zwar nicht nehmen lassen, mich zu bestrafen. Aber er tat nichts gegen den Mann, der sie überfallen und gequält hat. Der Staat zog es vor, ihr nicht zu glauben. Als ich im Gefängnis saß, hat er ihr nicht beigestanden; stattdessen musste sie zusehen, wie sie allein mit ihrem Unglück und ihrer Scham fertig wurde. Sie war schwanger, als sie starb, offensichtlich von ihrem Vergewaltiger. Sie hatte niemanden. Keine Familie. Mein Vater war tot. Meine Mutter im Ausland. Sie konnte nicht rechtzeitig herüberkommen.« Er holte tief Atem, drehte sich um und ließ Anna stehen. Er stieg auf das Oberdeck und sie sah, wie er in der Dunkelheit verschwand. Lange Zeit blieb sie stehen, dann drehte sie sich um und folgte ihm.
»Danke, dass Sie es mir gesagt haben.«
»Wenn ich’s nicht getan hätte, hätte Watson das früher oder später erledigt, da bin ich sicher. Die Leute erinnern sich immer an solche Sachen, obwohl es inzwischen Jahre zurückliegt.«
Schließlich wandte er sich zu ihr um. »Haben Sie Lust auf einen Drink?« Sie war verlegen, weil sein Gesicht so gezeichnet war von seinen Gefühlen, aber er verbarg sie sofort wieder. »Wenn Sie mit einem Mörder trinken wollen.«
»Sie sind kein Mörder. Nicht wenn es um Totschlag ging. Und ja, bitte, ich würde sehr gern etwas trinken.« Sie wollte ihn berühren, um ihre Worte zu untermauern und um ihn zu trösten, aber sie fühlte, dass das falsch war. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Stattdessen zwang sie sich zu lächeln und diesmal war sie es, die sich umdrehte und den Weg zur Bar voranging.
Toby schenkte zwei Gläser Whisky ein, zeichnete den Zettel neben der Kasse ab und schob ihr ein Glas hinüber.
»Slainte!«Sie schaute verwundert.
Er zuckte die Achseln. »Prost dann. Auf Sie und mich und die Mysterien Ägyptens, Inschallah !«
Sie stieß mit ihm an. »Toby…« Sie hielt inne. Wie sollte sie die widerstreitenden Gefühle, die in ihr tobten, in Worte fassen?
Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens. Sympathie. Mitgefühl für ihn, Traurigkeit wegen seiner Frau, wegen des ungeborenen Kindes, das das unschuldige Opfer von so viel Unglück war.
Zorn auf den Mann, der so viele Leben zerstört hatte. Es war unmöglich. Aber als sie zu ihm aufsah und seinem Blick begegnete, merkte sie, dass er verstand.
»Wollen wir etwas mehr von Louisa lesen?«, fragte er leise. Es war das Zeichen, das Thema zu wechseln.
Sie nickte.
Das Tagebuch lag in ihrer Kabine. Nach dem Duschen und Umkleiden für das Abendessen hatte sie es im Koffer eingeschlossen. Sie stand auf. »Soll ich es herbringen oder wollen wir es in meiner Kabine lesen?«
Er beobachtete ihr Gesicht. »Was möchten Sie denn?« Er klang zögernd.
Sie hatte keineswegs beabsichtigt, eine Einladung auszusprechen. Doch nun stellte sie fest, dass es genau das war. Sie lächelte und streckte die Hand aus.
In der Kabine schaltete sie die Bettlampe an. »Das Tagebuch ist eingeschlossen. Ein klassischer Fall von Stalltürver-riegelung.« Sie lachte. Als sie ihn ganz nah hinter sich stehen spürte, empfand sie plötzlich eine Woge der Erregung. Sie griff in ihre Schultertasche nach dem Schlüsselbund, dann ging sie zum Koffer.
Toby fasste sie am Handgelenk. »Anna?«
Sie rührte sich nicht. Doch dann drehte sie sich um und sah zu ihm auf.
Eine lange Zeit standen sie eng umschlungen, bis Anna sich sanft aus der Umarmung löste. »Bist du sicher, dass es das ist, was du willst?« Sie war selbst erstaunt, dass sie es war, die die Führung übernahm, sie, die diese Wendung einleitete, erfüllt von einem so großen Verlangen nach ihm, dass es sie fast lahmte. Sie hatte so etwas vorher noch nie gefühlt. Wenn es
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