Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
schwappte.
»Ich fürchte, ich bin nicht der richtige Ansprechpartner dafür.«
»In einer halben Stunde müsste es so weit sein«, sagte Aiko, die zwar keine Uhr hatte, aber als Naturgeist anscheinend wusste, wie sich die Gestirne verhielten. »Ich schätze mal, dass wir es so lange hier noch aushalten. Immerhin wird es eine Weile dauern, bis wir aus diesem Labyrinth wieder heraus sind.«
Es dauerte circa fünf Minuten.
Dragomir führte uns ohne Umwege zu einer zweiten Treppe, die in den Rittersaal führte, wo eine große Gruppe Gargoyles versammelt war. Tatsächlich merkte man den Steinmännern an, dass sie wegen des Fluches kaum aus der Burg herausgekommen waren. Die Halle wirkte noch immer mittelalterlich mit ihren Fackeln und dem Kamin, in dem helle Flammen loderten.
Als wir in der Mitte der Halle standen, deren Wände mit Wandteppichen und Bannern verhängt waren, traten uns zehn Gargoyles entgegen. Wollten sie uns aufhalten? War das so eine Art Delegation?
Och nö. Wir hatten heute Nacht wirklich genug Drama gehabt.
»Meine Brüder«, sagte Dragomir und winkte alle Anwesenden heran. »Der Fluch wurde von uns genommen, sofern Galatea nicht versagt hat. Bei Sonnenaufgang sollten wir wieder Menschen werden.«
Die Gargoyles murmelten sich etwas zu, das ich nicht verstehen konnte, doch sie griffen nicht an. Immerhin etwas.
Als ich aus dem Fenster blickte, sah es nicht so aus, als würde die Dämmerung bald einsetzen, denn noch immer war es stockdunkel. Ein paar Minuten warteten wir in gespannter Stille. Ich blickte hinüber zu Pheme, die bereits eine skeptische Miene aufsetzte. Zweifelte sie etwa an den Künsten der Nymphe?
Galatea wiegte zufrieden den Kelch in den Armen, und ihr Blick wirkte ein wenig entrückt. Dachte sie bereits daran, wie es werden würde, wenn sie ihrem Volk die Magie zurückbrachte? In ihrem Haar sprossen immer wieder neue Blätter und Blüten. Es fehlte nur noch, dass von irgendwoher Bienen und Hummeln auftauchten und sie umschwirrten. Wahrscheinlich tranken die Nymphen deswegen zu Beginn des Frühlings aus diesem Kelch.
Plötzlich bäumte sich der erste Gargoyle auf und stürzte zu Boden, und ein Raunen ging durch die Menge. Alle blickten auf den Gefallenen, der sich wie unter heftigen Schmerzen krümmte. Doch bevor irgendjemand reagieren konnte, sanken nacheinander auch die anderen auf die Knie. Selbst Dragomir.
O mein Gott. Hatte Galatea uns etwa betrogen? Ringsherum stöhnten die Steinmänner auf. Sie würden doch jetzt nicht sterben, oder?
»Was soll das?«, fuhr ich Galatea an, die noch immer ganz entrückt ihren Kelch wiegte. Waren in dem Trank irgendwelche Drogen gewesen? »Warum fallen sie alle um?«
»Weil die Sonne aufgeht«, entgegnete Pheme. »Hat dir Macius denn nicht das Buch der Kreaturen gegeben?«
Das Götterkinder-Lexikon, ja klar. »Natürlich hat er das, aber Krankheiten von Gargoyles standen da nicht drin.«
»Das ist keine Krankheit«, sagte Galatea. »Sie verwandeln sich. Nur dauert es ein wenig, wenn es nach langer Zeit zum ersten Mal geschieht.«
Erschrocken und skeptisch starrte ich auf die Steinmänner, die offenbar höllische Schmerzen hatten. Doch dann setzte die Veränderung ein. Die steingemaserte Haut verlor die graue Farbe und wurde wieder weiches menschliches Fleisch. Die Schwingen verschwanden, und ihr Haar wuchs im Zeitraffertempo. Innerhalb weniger Sekunden war es so lang, dass sie ihre gesamten Körper darin einwickeln konnten. Kein Wunder, wenn sie seit zweihundert Jahren keine Möglichkeit gehabt hatten, es zu schneiden.
Als der erste Dämmerschein in den Burgfenstern erschien, war die Verwandlung abgeschlossen. Etwa vierzig bis fünfzig nackte Männer, deren Haar ihnen wie Mäntel über die Schultern fiel, erhoben sich. Die Lendenschurze, die sie als Gargoyles getragen hatten, waren heruntergefallen.
Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen oder besser nicht hinschauen sollte, daher richtete ich meinen Blick peinlich berührt auf Thomas, der immerhin Klamotten anhatte.
»Endlich!«, rief Dragomir aus und reckte sich. »All die Jahre in dem steinernen Gefängnis …« Er wandte sich Galatea zu und gab sich sichtlich einen Ruck. »Ich hoffe, dass unsere Völker von nun an ein besseres Verhältnis zueinander entwickeln werden.«
»Das hoffe ich auch«, entgegnete Galatea lächelnd.
Falls die Nymphenmagie wie eine Droge wirkte, sollten die beiden sie definitiv weiter nehmen. Dass sie bereit waren, eine zweihundert Jahre
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