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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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getaucht, Verse, die solche Herren wie Goethe, Wieland oder Schiller
ad absurdum
führen. Ich liebe sie. Seht Ihr die Käsescheiben da auf meinem Teller? Sie erinnern mich an eine wunderbar abstruse Fatrasie, also höret.« Lichtenberg stand auf und deklamierte mit weit ausholenden Bewegungen:
    »Der Furz einer Käsemade
    wollte in seinem Käppchen
    Rom davontragen.
    Ein Ei aus Baumwolle
    nahm den Schrei
    eines Ehrenmannes beim Kinn.
    Der Gedanke eines Spitzbuben
    hätte ihn schließlich fast verprügelt,
    als ein Apfelkern
    ganz laut ausrief:
    ›Woher kommst du? Wohin geht’s? Welcome! ‹«
    Lichtenberg setzte sich wieder und sah Abraham erwartungsvoll an. »Na, wie findet Ihr das?«
    Abraham räusperte sich. Ihm war es ähnlich ergangen wie den meisten Zuhörern im Schankraum. Er hatte sich gleichermaßen amüsiert und veralbert gefühlt – vermischt mit einer Prise Staunen, dass so viel Absurdität möglich war. »Sehr interessant – und sehr verblüffend.«
    »Das höre ich gern, Abraham! Verblüffung ist ein Hauptziel der Fatrasie. Verblüffung, Staunen, Ungläubigkeit über das Sinnlose, dem unser Verstand nach jedem Vers einen Sinn zu geben versucht – und es dennoch nicht schafft, weil der folgende Vers ihn wieder in Unverständnis stürzt. Am Ende bleibt Verwunderung und, zumindest, was mich betrifft, auch
Be
wunderung für so viel sinnlose Fantasie. Wobei hinzugefügt werden muss, dass die deutsche Übersetzung zwar sehr gut klingt, aber dennoch nicht in der Lage ist, alles das wiederzugeben, was die französische Urfassung uns sagt.«
    »Da habt Ihr sicher recht.«
    »Und doch erkennen wir auch hier trotz aller Sinnlosigkeit eine Logik! Und das wiederum lässt uns hoffen, eines Tages vielleicht auch den
Élan vital
zu verstehen und sein Geheimnis zu lüften. Es gilt nur, anders, neu und nie gekannt zu denken.« Lichtenberg trank. Seine Äuglein glitzerten vor Fabulierlust.
    »Von welcher Logik sprecht Ihr, Herr Professor?«
    »Von der festen Form, in die eine jede Fatrasie gegossen ist. Sie besteht aus elf Versen, von denen die ersten sechs jeweils fünf Silben haben, die letzten fünf dagegen sieben. Die Anzahl der Verse, also elf, ist dabei bestimmend, sie bedeutet mehr als eine Handvoll und weniger als ein Dutzend. Sie symbolisiert gleichermaßen ein Zuviel und Zuwenig. Ihr seht also, auch hinter dem scheinbar Sinnlosen verbirgt sich durchaus ein Sinn – wenn auch ganz anders als erwartet.«
    »Das klingt alles ein wenig verwirrend.«
    »Haha, das soll es auch! Wo kämen wir hin, wenn ein Professor seine
Studiosi
nicht mehr verwirren könnte!
    Lieder aus Lauchsuppe
    hatten eine alte Stadt
    ganz und gar ausgeweidet.
    Eine lange Wartezeit
    raubte den Peleponnes
    aus lauter Demut.
    Wer die Zerbrechlichkeit gesehen hätte,
    die ihr Fass anstach
    im Arsch der Eitelkeit!
    Die Weißes für Schwarzes ausgeben,
    haben sich geschickt davongemacht.«
    Lichtenberg war diesmal sitzen geblieben, wahrscheinlich, weil der Alkohol seinen Beinen die Standfestigkeit genommen hatte.
    »Engländer aus Holland
    raubten Irland,
    um es mit Knoblauch zu essen.
    Ein Schneckerich verschickt
    Leute mit weiten Röcken …
    Er hielt inne. Vielleicht, weil ihm der restliche Text abhandengekommen war, vielleicht auch, weil er spürte, dass er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer verlor. »Nun ja, und so weiter«, sagte er. »Ich werde jetzt die Wurst und den Käse essen. Beides, so bilde ich mir ein, wirkt der
Paralyse
und Disfunktion meiner rechten Körperhälfte entgegen. Der Käse, mein lieber Abraham, besteht ja im Prinzip aus nichts anderem als verfaulter Milch. Er verdankt sein Vorhandensein einer Mutation, einer mystischen Wandlung, einem alchemistischen Vorgang, an dem Paracelsus seine Freude gehabt hätte …«
    »Herr Professor, bitte nehmt es mir nicht übel, aber ich muss langsam gehen.« Abraham stand auf.
    »Das kommt ja etwas plötzlich.«
    »Oh, ich möchte nicht unhöflich sein. Ich danke Euch für den Wein, die Ratschläge und für die, äh, Ablenkung. Es war ein sehr anregender Abend, doch ich muss nun wirklich los. Morgen früh im Hospiz wartet wieder der Dienst auf mich.« Und mehr zu sich selbst fügte er hinzu: »Und wer weiß, was sonst noch alles.«
    Lichtenberg blickte auf und sah Abraham direkt an. »Ich danke Euch ebenfalls. Die Unterhaltung mit Euch hat mir
Plaisir
gemacht, obwohl ich die meiste Zeit monologisiert habe. Es war auch ein Versuch, Euch auf andere Gedanken zu bringen. Wisset in

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