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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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eine Elle entfernt daran vorbeisummt, nicht. Es kommt
nota bene
nicht nur auf die Stärke des Funkens an, sondern auch auf den Abstand, den man zu ihm hält. Kurzum: Nach allem, was Ihr mir über Eure Versuche erzählt habt, kann Burcks Tod nicht mit dem Elektrophor in Zusammenhang gebracht werden. Im Gegenteil, vielleicht wird die Maschine zur endgültigen Gesundung Eurer Patienten beitragen. Habt Ihr schon einmal von dem
Élan vital
gehört?«
    »Ehrlich gesagt, nein.«
    »Nun, darunter versteht man … wartet einen Augenblick, da kommen die Aufpasser der jungen Herren, um sie nach Hause ins Bett zu bringen. Es sind wehrhafte Aufpasser, sozusagen fleischgewordene Argusaugen des englischen Hofes, mit denen nicht gut Kirschen essen ist.«
    Lichtenberg übergab seine Schutzbefohlenen mit einem freundlichen »Gute Nacht« und wandte sich Abraham erneut zu. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, bei dem rätselhaften
Élan vital,
der Kraft, die Totes zum Leben erweckt – tote Materie jedweder Art. Es gibt verständlicherweise kaum einen Ort, an dem man diese Essenz nicht gesucht hat – die Fahndung nach ihr kommt der Suche nach dem Goldenen Vlies gleich –, doch einige meiner geschätzten Kollegen glauben, man müsse sie gar nicht suchen, sondern könne sie mit Hilfe einer elektrischen Entladung erzeugen.«
    »Herr Professor, glaubt Ihr etwa …?«
    »Ich glaube gar nichts, mein lieber Abraham, und wenn, dann nur an die segensreiche Wirkung des Weines. Prosit.«
    »Prosit.« Abraham wollte eigentlich nichts mehr trinken, befürchtete aber, durch eine Ablehnung den Professor in seinen Ausführungen zu unterbrechen.
    »Wie gesagt: Ich glaube gar nichts. Glauben soll man an den lieben Gott, die Wissenschaft jedoch will Fakten. Und diese Fakten könntet Ihr, lieber Abraham, schaffen, indem Ihr Eure Patienten, äh, sozusagen wiederauferstehen lasst. Dann hätten wir ein erstes Indiz dafür, dass in meinem Elektrophor so etwas wie der
Élan vital
schlummert.«
    »Erzählt mir mehr über den
Élan vital.
«
    »Nun ja, Ihr lockt den Dozenten in mir hervor, und das um« – Lichtenberg schielte zu der Standuhr an der Tür – »ein Viertel vor elf in der Nacht. Aber sei’s drum, auch wenn ich dabei ins Chemische abgleiten muss, was meine Profession nicht ist. Es gibt Theorien, die besagen, dass der
Élan vital
in manchen Substanzen vorkommt, in anderen wiederum nicht, woraus sich zwei Felder der Chemie ergeben: die organische mit den Stoffen der Lebenskraft – mit dem
Élan vital
also – und die anorganische mit allen anderen Stoffen. Auch Lavoisier ist dieser Meinung. Von ihm stammt das Prinzip der Oxydation. Er fand heraus, dass in der Luft ein Gas existiert, das er Oxygenium taufte, und dass besagtes Oxygenium ursächlich damit zusammenhängt, warum ein rostender Metallgegenstand nachweislich nicht leichter, sondern schwerer wird.
Voilà,
da fragen wir uns, wodurch eine nicht gegenständliche Materie plötzlich zum eigenen Gegenstand wird. Was bewirkt, dass aus nichts plötzlich Rost wird? Der
Élan vital?
Ich weiß es nicht, ich glaube, Lavoisier weiß es auch nicht.«
    Lichtenberg kicherte in der ihm eigenen Art und trank. Er schien große Mengen vertragen zu können, ohne dass seine Aussprache darunter litt. »Ja, ja, die Suche nach Dingen, die es nicht gibt, sie fesselt uns alle. Denn vielleicht gibt es sie ja doch? Müssen wir nur eine wissenschaftliche Klippe umschiffen, damit sie sich vor uns auftun? Müssen wir nur den richtigen Zeitpunkt abpassen, um das andere, das unbekannte Ufer zu erreichen? Geben sie sich dort zu erkennen, alle die Mirakel, die Miasmen, die vergifteten Lüfte, die phlogistonfreien Meeressäuren, die Phloxine, die Ausdünstungen der Erde? Und vor allem: Begegnen wir dort dem Phlogiston, jener kryptischen Substanz, die das aktive Prinzip der Verbrennung sein soll? Wir wissen es nicht. Immerhin, zwischen alledem, so wird vermutet, liegt der geheimnisvolle
Élan vital,
prosit!«
    Lichtenberg trank, und Abraham konnte nicht umhin, ebenfalls zu trinken.
    »Seht Ihr, Abraham, da sind wir wieder beim unerklärlichen
Élan vital,
beim Nichts, beim scheinbar Sinnlosen, dem wir keine Gesetzmäßigkeiten abringen können. Wisst Ihr, was eine Fatrasie ist? Es sind ebenso große Sinnlosigkeiten aus der schönen Stadt Arras im Französischen. Jahrhundertealte Buchstabenfolgen in scheinbar willkürlicher Reihung. Es sind Sinnlosigkeiten, Leerformeln, Unverständlichkeiten. Bizarr in Worte

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