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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Heinrich von Zettritz, wie du alle Welt glauben machen willst.«
    Henrietta schlug die Augen nieder. »Es war nicht anders möglich. Erinnerst du dich, als wir uns das erste Mal am Albaner Tor sahen? Es ging um dein Studium, und du sagtest zu mir: ›Ich weiß, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Aber ich wollte unbedingt Mediziner werden.‹ Und ich antwortete: ›Genau das will ich auch!‹ Seitdem weiß ich, dass uns viel verbindet.« Henrietta rückte ein wenig näher.
    Abraham ließ es geschehen und gab einen grunzenden Laut von sich.
    »Was hättest du denn an meiner Stelle gemacht? Dich einfach damit abgefunden? Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, dass wir Frauen nicht studieren dürfen, das findest du doch auch, oder?«
    »Doch, ja.« Abraham hatte sich mit solchen Gedanken nie näher beschäftigt. »Was sagen eigentlich deine Eltern dazu, dass du täglich diese Maskerade veranstaltest und aller Welt den jungen
Studiosus
vorgaukelst?«
    »Ach, die.« Henrietta begann, ihre Hände zu kneten. »Ich habe mich heimlich fortgeschlichen, nachdem ich mich wochenlang auf diesen Schritt vorbereitet hatte. Vater und Mutter waren strikt gegen ein Studium und verließen sich letztendlich auf die Gesetzeslage, die uns Frauen das Studium verbietet. Aber da kannten sie mich schlecht! Ich bin allein nach Göttingen gefahren und habe alles selbst gemacht: Zimmersuche, Immatrikulation und so weiter, und häufig habe ich dabei Blut und Wasser geschwitzt, das kannst du mir glauben.« Henrietta richtete sich auf. »Aber ich habe es geschafft! Und du, Julius, du hast mir dabei geholfen. Du hast es vielleicht nicht gemerkt, aber du hast so eine Art« – sie zögerte – »so eine ruhige, überlegene Art, die einem Kraft gibt. Und außerdem bist du genau wie ich ein Außenseiter.«
    »Hm, ja.« Abraham spürte Verlegenheit. Um sie zu überbrücken, fragte er: »Und deine Eltern? Wenn sie dich lieben, müssen sie sich zu Tode ängstigen. Wie kannst du ihnen das nur antun!«
    Henrietta biss sich auf die Lippen. »Ja, ja, ich weiß. Das habe ich mir auch gesagt. Ein paar Tage nachdem ich in Göttingen eingetroffen war, bekam ich ein furchtbar schlechtes Gewissen und wäre fast wieder nach Hause gefahren. Aber ich musste mich entscheiden, und ich entschied mich fürs Studium.« Sie griff nach Abrahams Hand. Er wollte sie zurückziehen, doch sie sagte: »Bitte, lass sie mir.«
    Also hielt Abraham still, und Henrietta erzählte weiter: »Nachdem zehn oder zwölf Tage vergangen waren, stand in einem Wochenblatt, dass die junge Freiin Henrietta von Zarenthin verschwunden sei. Der Graf und seine Gemahlin seien krank vor Sorge, Himmel und Hölle seien in Bewegung gesetzt worden, um die geliebte Tochter zu finden, allein, sämtliche Bemühungen seien bisher umsonst gewesen. Im Übrigen sei für Hinweise über den Aufenthalt der jungen Adligen eine Belohnung von hundert Talern ausgesetzt worden.«
    Henrietta lehnte den Kopf an Abrahams Schulter. »Ja, so war das. Eine schreckliche Zeit – und gleichzeitig eine überaus aufregende, schöne, denn ich durfte lernen, und ich hatte in dir einen guten Freund gefunden. Nur die Nächte wurden mir lang, da dachte ich an mein Zuhause und an die ausweglose Lage, in der ich mich befand. Gern hätte ich mit dir darüber gesprochen, aber ich traute mich nicht. Einen Tag nachdem der Artikel in dem Wochenblatt erschienen war, ließ ich meinen Vater auf Umwegen wissen, dass seine Tochter lebte und dass ihr Aufenthaltsort bekannt sei. Wenn er Näheres erfahren wolle, solle er an einen geheimen Ort vor der Stadt kommen.
    Dort traf ich mich wenige Stunden später mit ihm. Er war allein, wie ich es zur Bedingung gemacht hatte. Er erkannte mich zuerst nicht, doch als er meine Stimme hörte, liefen ihm die Tränen über die Wangen, und er stammelte fortwährend: ›Mein Kind, mein Kind, du lebst, mein Kind!‹ Auch ich musste schrecklich weinen, und fast hätte ich alles aufgegeben und wäre mit ihm nach Hause zurückgekehrt. Doch ich ließ mich nicht beirren, obwohl mein Vater sich alle erdenkliche Mühe gab, mich umzustimmen. Er erinnerte mich an unseren Stand, die Vorbildfunktion, die wir Adligen hätten, den Gesetzesbruch, der mit meinem Handeln verbunden sei, und so weiter, doch es nützte alles nichts. Auch seine Drohung, er würde mich in Göttingen verhaften lassen, wenn ich nicht endlich einsichtig sei, beeindruckte mich nicht. Ich wies ihn auf den Skandal hin, den es geben würde, wenn alles

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