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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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aufflöge. Dann fing ich abermals an zu weinen, und zwar in der Art, die ich von klein auf einsetzte, wenn ich unbedingt etwas von ihm wollte. Meine Tränen verfehlten auch diesmal ihre Wirkung nicht. Schließlich sagte er: ›In Gottes Namen, du magst erst einmal so weitermachen. Ich werde ein paar meiner Verbindungen spielen lassen, für alle Fälle. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist aber noch nicht gesprochen.‹ Doch mir war das egal, ich war selig!«
    Abraham brauchte eine Weile, um das Gehörte zu verarbeiten, dann murmelte er: »Mein Gott, was hast du nur alles mitgemacht. Und nichts davon habe ich bemerkt.«
    »Nein, nichts.«
    »Das Schicksal geht seltsame Wege.«
    »Ja, Julius.« Henriette kuschelte sich noch näher an ihn. Ihre Hand begann mit einem seiner Jackenknöpfe zu spielen. »Hätte ich dich früher einweihen sollen?«
    Abraham beobachtete die Hand. »Ich weiß es nicht.«
    »Wirst du mich auch nicht verraten?«
    »Äh, nein, sicher nicht.« Seine Stimme klang heiser. »Warum hast du mir dein Geheimnis überhaupt verraten?«
    »Ganz einfach.« Henrietta blickte ihn an. Im Kerzenschein schimmerte ihr Haar wie das eines Engels. »Ich musste mit jemandem darüber reden. So schön das Studium auch ist, es ist eine ziemlich einsame Sache. Und ich habe nur dich.« Ihre Hand ließ den Knopf los und streichelte seine Wange. »Nur dich.«
    »Hm, hm.«
    »Es ist ein bisschen wie bei meinem Vater: Auch ihn kann ich auf die Dauer nicht anschwindeln. Irgendwann muss die Wahrheit heraus.«
    »Ich bin aber nicht dein Vater.«
    »Nein, das bist du nicht.« Henrietta richtete sich auf und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
    Abraham ließ es geschehen. Alles kam ihm seltsam unwirklich vor. Noch vor einer halben Stunde war er mit Heinrich im
Schnaps-Conradi
gewesen, hatte mit Professor Lichtenberg über dessen zahlreiche Zipperlein gesprochen, Wein getrunken und an nichts Ungewöhnliches gedacht – und nun saß er hier in einer Studentenbude im schummrigen Licht, einer blonden, hinreißend schönen jungen Frau gegenüber, die Henrietta hieß und einem Schmetterling gleich aus einer Verpuppung geschlüpft war.
    Er fühlte, wie Henrietta ihn abermals küsste, diesmal auf den Mund, und spürte die Versuchung in sich hochsteigen. Wieder küsste sie ihn, behutsam, aber zielstrebig, als gehöre er ihr. Sein Widerstand ließ nach. Der Duft ihres Körpers, eine feinherbe Note nach Bergamotte-, Lavendel- und Rosmarinölen, berauschte ihn. Herrgott noch mal, was machte er eigentlich hier? Er sollte längst zu Hause in der Güldenstraße sein, bei Alena, seiner schönen, treuen, ahnungslosen Alena. War er von Sinnen …? Tief atmend riss er sich los.
    Henriettas Augen leuchten. »Ich weiß«, flüsterte sie, »dass du zurück zu Alena willst, es steht in deinen Augen. Ich weiß, dass ich dich nicht haben kann, aber ich wollte nur ein Mal, ein einziges Mal, wissen, wie es ist, dich zu küssen.«
    »Ich, ich …«
    »Küss du mich auch.«
    Abraham war nicht mehr bei sich. Er riss diese schöne, blonde, fremde, vertraute, rätselhafte Frau an sich und küsste sie auf den Mund, einmal, zweimal, immer wieder, und während er das tat, merkte er, dass er nicht mehr lange würde an sich halten können. »Willst du, dass ich bleibe?«, fragte er heiser.
    »Ja«, hauchte sie, »das möchte ich.«
    In seinem Herzen jubelte es, das Verlangen nach ihr überstrahlte jedes andere Gefühl in ihm. Er wollte Henrietta abermals in die Arme nehmen und in die Kissen drücken, aber zu seiner Überraschung machte sie sich los und blickte zur Seite.
    »Was ist?«, krächzte er.
    »Oh, Julius, ich möchte es auch. Wirklich. Aber genau deshalb musst du jetzt gehen.«

[home]
    Von dannen Er kommen …
    A lena erwachte aus einem unruhigen Dämmerschlaf, als Abraham sich neben sie legte. Sie wusste nicht, wie viel Uhr es war, aber es musste schon nach zwölf sein. Sie fühlte sich wie gerädert. Stunde um Stunde hatte sie auf ihn gewartet – wieder einmal. Irgendwann am Abend war Hasselbrinck gekommen und hatte ihr eine Nachricht überbracht, in der Abraham versprach, es nicht allzu spät werden zu lassen, doch die Nachricht war das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stand. Sie kämpfte mit den Tränen und drehte sich zur Wand, denn sie wusste, wenn sie jetzt mit ihm sprach, würde sie ihm bittere Vorwürfe machen.
    »Liebste, bist du wach?«
    Alena schwieg.
    »Du bist wach, ich höre es an deinem Atem.«
    Alena hielt den Atem

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