Das Lied der Maori
winziger Vogel trübselig von einer Stange zur anderen hüpfte. »Wenn der Vogel taumelt, heißt es Flucht!«
Timothy war entsetzt. »Aber das ist mittelalterlich! Ich weiß, man hat die Vögelchen noch überall, denn als Frühwarnsystem sind sie unschlagbar. Aber das ist doch kein Ersatz für eine ausreichende Bewetterung! Ich werde mit meinem Vater reden, die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden. Dann werden die Männer auch effektiver hauen.«
Der Steiger schüttelte den Kopf. »Noch effektiver haut kein Mensch. Aber man könnte die Strebe verbreitern, sie geschickter abstützen.«
»Und wir müssen den Transport von Abraum verbessern. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass die Männer das Geröll noch in einer Kiepe wegschleppen! Und habe ich draußen wirklich Schwarzpulver gesehen? Sagen Sie nicht, Sie benutzen noch keine Wettersprengstoffe!«
Der Steiger verneinte. »Wir haben nicht mal Explosionssperren. Wenn hier was hochgeht, brennt die ganze Mine.«
Eine Stunde später hatte Timothy seine Inspektion des Bergwerks beendet und in seinem Steiger einen Freund gewonnen. Matthew Gawain hatte eine Bergwerksschule in Wales besucht, und seine Vorstellungen von moderner Fördertechnik und Minensicherheit deckten sich weitgehend mit Tims. Was zeitgemäße Ventilationstechniken und Schachtbau anging, war Timothy ihm allerdings voraus. Matthew arbeitete seit drei Jahren in Neuseeland, und die Bergwerkstechnik machte ständig Fortschritte. Die beiden verabredeten, sich bald auf ein Bier im Pub zu treffen und ihr Gespräch fortzusetzen.
»Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen, das alles zu realisieren«, meinte Matthew schließlich. »Ihr Vater ist nur am schnellen Gewinn interessiert, wie die meisten Bosse. Und das ist ja auch wichtig ...«, beeilte er sich hinzuzufügen.
Timothy winkte ab. »Langfristiges Denken ist genauso wichtig. Wenn eine Mine einstürzt, weil man sie nicht ausreichend gesichert hat, kostet das mehr Geld als rechtzeitige Renovierung. Von den Menschenleben ganz zu schweigen. Außerdem ist die Gewerkschaftsbewegung auf dem Vormarsch. Auf die Dauer wird man nicht darum herumkommen, bessere Bedingungen für die Arbeiter zu schaffen.«
Matthew grinste. »Wobei ich nicht die Befürchtung hege, dass Ihre Familie in diesem Fall auch nur ein Stück Brot weniger zu essen hätte.«
Tim lachte. »Da fragen Sie mal meinen Vater! Der wird Ihnen umgehend erklären, dass er jetzt schon völlig verarmt ist und jeder Ausfalltag in der Grube ihn dem Hungertod näher bringt.« Er atmete auf, als die Grube ihn losließ und er wieder das Tageslicht sah. Sein Dankgebet an die heilige Barbara war aufrichtig, obwohl er im Grunde seines Herzens glaubte, dass es weniger die Aufgabe himmlischer Schutzpatrone als ganz irdischer Bergbauingenieure war, Grubenunglücke zu verhindern.
»Wo können wir uns waschen?«, fragte er.
Matthew lachte. »Waschen? Da werden Sie wohl nach Hause gehen müssen. Einen Luxus wie überdachte Waschräume oder gar warmes Wasser werden Sie hier nicht finden.«
Timothy beschloss, nicht nach Hause zu gehen. Im Gegenteil. Verdreckt wie er war, würde er das Kontor seines Vaters aufsuchen und ein sehr ernstes Wort mit ihm reden.
Am Nachmittag lenkte Timothy sein Pferd ins Zentrum von Greymouth. Er beabsichtigte, die Materialien für die Veränderungen in der Mine, die er seinem Vater am Morgen abgetrotzt hatte, gleich zu bestellen. Viel war es allerdings nicht. Marvin Lambert hatte lediglich dem Bau eines einzigen neuen Wetterschachts sowie einiger Explosionssperren zugestimmt, und auch das nur, um den Mindestanforderungen der staatlichen Minenaufsicht zu entsprechen. Timothys Argument, sein Konkurrent Biller könne seine Verstöße gegen die Sicherheitsbestimmungen aufdecken und anzeigen – »Er braucht nur einen deiner Bergleute zu befragen, Vater!« –, hatte den Alten überzeugt. Timothy war entschlossen, die Bestimmungen in den nächsten Tagen noch einmal bis ins Detail durchzusehen. Vielleicht gab es ja noch etwas, das sich in seinem Sinne nutzen ließ. Aber jetzt genoss er erst einmal den Ritt durch das außergewöhnlich schöne Frühlingswetter. Am Morgen hatte es noch geregnet, aber jetzt kam die Sonne durch, und die Wiesen und Farnwälder leuchteten grün vor der Kulisse der Berge.
Am Ortseingang passierte er die Methodistenkirche, einen hübschen Holzbau. Er überlegte kurz, ob er eintreten und ein paar Worte mit dem Reverend sprechen sollte. Der Mann war
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