Das Lied der Maori
ich habe meinen Mann erschossen.«
DIE STIMMEN DER GEISTER
Greymouth, Otago, Blenheim, Christchurch
1898
1
»Aber es war Notwehr, Lainie! Dafür wird dich niemand verurteilen!« Tim Lambert hatte sich Elaines Geschichte ruhig angehört – ohne ein Zeichen von Abscheu oder Entsetzen über ihre Gewalttat. Er trocknete ihre Tränen und streichelte sie tröstend, als sie bei der Schilderung ihrer schlimmsten Erlebnisse unkontrolliert zitterte. Schließlich lag sie erschöpft und ausgebrannt an ihn geschmiegt und umklammerte mit einer Hand seinen Arm. Mit der anderen drückte sie Callie an sich. Die kleine Hündin war gleich leise winselnd zu ihr gekommen, als Elaine zu erzählen begann.
»Es war keine Notwehr«, beharrte Lainie. »Nicht im Sinne des Gesetzes. Thomas hat an diesem Tag nur mit mir gesprochen, er hat mich nicht einmal berührt. Als ich geschossen habe, war er mindestens zwei Meter von mir entfernt. Das lässt sich nachprüfen, Tim. Damit lässt mich kein Richter durchkommen.«
»Aber der Mann hat dich vorher immer wieder bedroht und verletzt! Und du wusstest, er würde es noch einmal tun! Gibt es denn niemanden, der dir das bestätigt? Keinen, der von all dem wusste?«
Tim zog die Decke über Lainies und seinen Körper. Es wurde kühl; im Frühherbst wärmte die Mittagssonne nicht lange.
»Zwei Maori-Mädchen.« Elaines Antwort kam so schnell, als habe sie dieses Gespräch in Gedanken tausendmal durchgespielt. »Eine der beiden spricht kaum Englisch und arbeitet als Sklavin für Sideblossom, weil er ihren Stamm beim Viehdiebstahl erwischt hat. Großartige Zeuginnen. Selbst wenn sie eine Aussage wagen würden! Und zwei Stallburschen können berichten, dass mein Mann mir verboten hat, alleine zu reiten. Kaum ein Grund, ihn zu erschießen.«
»Aber es war Freiheitsberaubung!« Tim gab nicht so leicht auf. »Der Kerl hat dich auf der Farm praktisch eingesperrt. Da kann einem keiner einen Vorwurf machen, wenn man ausbricht und dabei ... na ja, wenn dabei jemand zu Schaden kommt.«
»Das müsste ich auch wieder beweisen, was ohne Zeugen nicht möglich wäre. Und Zoé und John Sideblossom würden es mir wohl kaum bestätigen. Außerdem bin ich ja nicht gekidnappt worden. Ich war Thomas’ Ehefrau. Wahrscheinlich ist es nicht mal verboten, seine Ehefrauen einzuschließen ...« Elaines grimmiger Miene nach schien sie ihr Eheversprechen gegenüber Tim gerade noch einmal zu überdenken.
»Und dieser Paddy? Der Fahrer von deinem Vater? Der hat doch gesehen, wie Sideblossom dich behandelt hat.«
Tim wälzte den Fall in Gedanken hin und her. Es durfte nicht sein, dass Elaine völlig hilflos war.
»Nein, er hat auch nicht gesehen, wie Thomas auf mich einprügelte. Und ganz abgesehen davon ... In dem Moment, in dem ich geschossen habe, war ich nicht unmittelbar bedroht. Natürlich hätte Thomas mich später umgebracht. Aber so etwas wie ›vorbeugende Notwehr‹ gibt es nicht. Gib dir keine Mühe, Tim. Ich habe nächtelang hin und her überlegt. Wenn ich mich stelle und der Richter mir wenigstens einen Teil der Geschichte glaubt, ende ich vielleicht nicht am Galgen. Aber ich verbringe garantiert den Rest meines Lebens im Gefängnis, und da zieht mich wenig hin.«
Tim seufzte und versuchte, seine Beine in eine andere Lage zu bringen, ohne Elaine dabei zu stören. Langsam wurde es ungemütlich auf der Lichtung. Lainie bemerkte das auch. Sie küsste Tim flüchtig, als sie sich aus seinen Armen wand und sich daranmachte, die Picknicksachen einzusammeln.
Tim überlegte, ob er seine Gedanken aussprechen sollte. Es würde Elaine zweifellos ängstigen. Aber dann tat er es doch.
»Wenn wir die Sache weiter geheimhalten wollen, wird das zu Komplikationen in unserem Zusammenleben führen.« Tim sprach mit ruhiger Stimme, aber natürlich löste er eine Explosion aus.
Elaine wirbelte herum. Ihr Gesicht verzerrte sich, und sie hielt die leere Weinflasche, als wollte sie das Ding nach ihm schleudern. »Du musst mich ja nicht heiraten!«, stieß sie hervor. »Vielleicht war’s ja gut, dass wir vorher noch darüber gesprochen haben ...«
Tim duckte sich und machte eine Friedensgeste. »He! Nun schrei mich nicht gleich an! Natürlich will ich dich heiraten. Mehr als alles auf der Welt! Ich meine nur, dass du hier niemals völlig sicher sein kannst. Du kannst dich vielleicht als Barpianistin vor der Welt verstecken, aber nicht als Mrs. Timothy Lambert. Wir sind Unternehmer, Lainie, wir führen ein offenes Haus. Die
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