Das Lied der Maori
die toten Bergleute längst vergessen.«
»Von mir aus können wir uns ruhig erst verloben«, meinte Elaine. Ihr war es eigentlich gleich. Im Gegenteil, je später sie sich ein Haus mit Nellie Lambert teilen sollte, desto lieber war es ihr. Und zurzeit gefiel ihr das Leben mit Tim ohnehin genau so, wie es war. Der junge Mann betrieb immer noch äußerste Anstrengungen, möglichst bald besser laufen und reiten zu können, aber er kämpfte nicht mehr so verbissen wie bisher. Wenn er sein Trainingsprogramm am Morgen beendet hatte, gönnte er sich am Nachmittag Ruhe – oder zumindest Entspannung. In der Regel begann das damit, dass Elaine für ihn kochte. Sie entdeckte ihre hausfrauliche Seite erneut, die ja auch William kurzfristig in ihr erweckt hatte. Anschließend landeten sie dann in Lainies Bett, zunächst zwecks Mittagsschlaf, aber später auch zu anderen Aktivitäten.
Tim tat es gut, verwöhnt zu werden. Er nahm zu, und sein Gesicht verlor den ständig angespannten Ausdruck. Seine Lachfalten kehrten zurück, und seine Augen funkelten wieder so schalkhaft wie früher. Es klappte noch nicht mit dem Tanzen, aber zu Pferde wurde er immer sicherer. Inzwischen gab es auch in Madame Clarisse’ Stall eine spezielle Auf- und Abstiegsrampe – Jay Hankins, der Schmied, dachte mit. Oft holte Lainie Tim jedoch einfach mit dem Gig ab, egal wie säuerlich Nellie guckte. Und neuerdings übte Roly sich im Kutschieren. Dabei hatte der Junge es meist genauso eilig wie das Pferd; Fellow war zum Fahren eigentlich zu lebhaft. Aber wenn Roly weit genug von den nach wie vor gefürchteten Pferdehufen und -zähnen entfernt war, gefiel der inzwischen Vierzehnjährige sich durchaus als furchtloser Wagenlenker. Der zweirädrige Wagen, der sich in Lamberts Remise gefunden hatte, hüpfte dann rasant über Stock und Stein, und Tim war wie gerädert, wenn er bei Lainie ankam.
»Ich könnte die Strecke genauso gut auf dem Pferd galoppieren«, stöhnte er und rieb sich die schmerzende Hüfte. »Aber Roly hat Riesenspaß. Und er muss manchmal Dampf ablassen. Als ›männliche Krankenschwester‹ hört er sich nun wirklich genug Spott an.«
Auch am Spott und Tratsch der Stadt nahm Tim wieder teil. Seine Freunde begrüßten ihn mit Hallo am Stammtisch im Pub. Madame Clarisse machte eine große Sache daraus, die harten Stühle rund um den Tisch in der Ecke durch bequeme Sessel zu ersetzen.
»Ein spezieller Service für unsere treuesten Kunden«, bemerkte sie. »Kommt sonst nur den Herren zugute, die auf die Gesellschaft unserer Damen warten ...« Die Sessel stammten aus einem Aufenthaltsraum im ersten Stock. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause!«
Ernie, Matt und Jay machten mit und ließen sich mit großer Geste und noch größeren Zigarren und Whiskygläsern in ihrem speziellen »Herrenzimmer« nieder. Tim war dankbar dafür. Mit seinen Krücken fiel er so schon genug auf. Er kam kaum durch die Stadt oder den Barraum, ohne angesprochen zu werden.
Im Gegensatz zu seinem Status bei den Minenbesitzern war der Respekt der Bergleute ihm gegenüber seit dem Unfall gestiegen. Jeder hatte den langen Kampf um Genesung unter der Fuchtel von Berta Leroy verfolgt, und selbst jedem neuen Bergmann wurde als Erstes erzählt, wie der Sohn des Minenbesitzers als Erster in die Unglücksmine eingefahren war und mit eigenen Händen und unter Einsatz seines Lebens versucht hatte, die Leute auszugraben. Tim war seitdem einer der ihren. Einer, der wusste, wie gefährlich ihr Dasein war, mit wie viel Angst und Unsicherheit sie jeden Tag lebten. Deshalb grüßten sie ihn respektvoll, fragten ihn mitunter aber auch um Rat oder baten um Fürsprache beim Steiger oder bei der Minenleitung. Was Letzteres betraf, musste er sie allerdings durchweg abschlägig bescheiden. Tims Einfluss auf seinen Vater war nach wie vor gleich null, und auch sonst sah es schlecht aus mit Vergünstigungen rund um die Mine der Lamberts. Matt kam immer öfter mit ernstem Gesicht in den Pub und schilderte Tim die katastrophale wirtschaftliche Lage des Unternehmens.
»Das fängt damit an, dass wir keine Leute kriegen. ›Lambert zahlt schlecht, und die Mine ist gefährlich.‹ Das ist das Erste, was hier jeder neue Arbeiter zu hören kriegt. Und das wird sich auch nicht ändern. Ihr Vater ist bei seinen Leuten unten durch. Die Hilfsleistungen an die Hinterbliebenen nach dem Unglück waren ein Witz! Sie deckten kaum die Begräbniskosten, und seitdem sind die Frauen und Kinder auf Wohltätigkeit
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