Das Lied der Maori
ein Gespräch über Schienenbau und die diversen Schwierigkeiten bei der Gleisführung über die Alpen vertieft.
»Wir trinken nachher was zusammen im Herrenzimmer«, meinte Redcliff beinahe verschwörerisch, als er merkte, dass Tim das Stehen schwerfiel. »Ich hab einen fantastischen Whisky. Aber erst mal muss ich die Begrüßung hier hinter mich bringen. Meine Frau hat so ziemlich jeden in Blenheim eingeladen, den ich kenne, aber nicht mag. Suchen Sie sich irgendeinen Platz, und essen Sie etwas. Nach dem, was diese Schwadron von Köchen gekostet hat, die uns heute den ganzen Tag auf die Nerven gegangen ist, muss das Buffet ein Wunder sein.«
Heather verbrachte den ganzen Abend damit, Kura und Elaine herumzureichen. Elaine kam kaum dazu, etwas zu essen. Kura versprühte unausgesetzt Charme und nahm jeden für sie ein, dem sie vorgestellt wurde. Dabei verfielen die meisten ihr allein schon wegen ihres Aussehens, doch einige wirklich Musikinteressierte bewunderten auch die reich verzierte
pecorino
-Flöte, die sie auf Williams Anraten mitgebracht hatte. Für viele Gäste war es ein Erlebnis, das Maori-Instrument von nahem zu sehen und sogar anfassen zu dürfen.
»Kann man damit wirklich die Geister beschwören?«, fragte eine junge Frau interessiert. »Ich habe so etwas gelesen. Die Flöte soll mit drei verschiedenen Stimmen singen, aber nur wenigen ist es gegeben, damit die Geister wecken zu können, sagt man.«
Kura wollte eben erklären, dass die Geisterstimme der
pecorino
eher eine Frage der Atemtechnik sei als der Spiritualität. Doch William unterbrach sie und ließ seinem Talent zum
whaikorero
wieder einmal freien Lauf.
»Nur Auserwählte – man nennt sie
tohunga
– entlocken der Flöte diese ganz außergewöhnliche Musik. Wenn Sie diese Klänge hören, denken Sie nicht mehr an Aberglaube. Es mag nur eine Atemtechnik sein, aber diese Stimmen berühren den Menschen tief im Innern. Sie werfen Fragen auf, und sie geben Antworten. Manchmal erfüllen sie sehnlichste Wünsche ...« Er zwinkerte Kura zu.
»Machen Sie doch mal!«, meinte ein schon leicht angetrunkener junger Mann, der Begleiter der jungen Frau. »Beschwören Sie doch mal ein paar Geister!«
Kura wirkte peinlich berührt oder tat zumindest so.
»Das tut man nicht«, murmelte sie. »Ich bin keine Zauberin, und außerdem ... die Geister sind doch keine Zirkusponys, die man einfach so auftraben lässt.«
»Oh, zu schade, ich hätte gern mal einen echten Geist gesehen!«, witzelte der Mann. »Aber vielleicht klappt es ja morgen im Konzert.«
»Die Geister berühren einen Menschen dann, wenn er es am wenigsten erwartet!«, erklärte William ernst. Dann lachte er Kura unverschämt zu, als das Pärchen gegangen war. »So macht man das, Süße! Du musst dich ein bisschen geheimnisvoller darstellen. Die
Habanera
singen können viele. Aber Geister zu beschwören ist etwas Besonderes. Deine Ahnen werden es dir schon nicht übel nehmen.«
»Wenn das so weitergeht, musst du demnächst noch wahrsagen«, neckte Elaine ihre Cousine.
Kura verdrehte die Augen. »Er ist auch schon auf den Gedanken gekommen, wir sollten es zumindest offen lassen, ob ich nicht doch in traditioneller Maori-Kleidung auftrete.«
»Du sollst dich tätowieren lassen und mit ... unverhüllter Brust auf die Bühne gehen?«, kicherte Lainie.
»Ersteres wohl weniger, aber an Letzteres hat er zweifellos gedacht. Wörtlich sprach er von so etwas wie Baströckchen. Ich weiß nicht mal, was das ist!« Kura lächelte. Sie nahm William schon längst nicht mehr gar so ernst.
»Kura? Miss Keefer? Da sind Sie ja! Kommen Sie, ich muss Sie noch jemandem vorstellen!« Heather Redcliff wirbelte schon wieder auf sie zu. Diesmal hatte sie einen korpulenten Mann und seine nicht weniger rundliche Frau im Schlepptau. Den beiden folgte ein etwas seltsames Paar, das länger brauchte, bis es den Raum durchquert hatte. Der Mann stützte sich schwer auf die Frau und einen Gehstock; er war groß, wirkte aber irgendwie verwachsen. Sein Gesicht wurde von einer dunklen Brille beinahe verdeckt.
»Prof. Dr. Mattershine und Louisa Mattershine. Der Professor ist Chirurg an unserem neuen Krankenhaus. Eine Kapazität! Und seine Gattin ...«
Elaine hörte nichts von dem, was Heather ausführte. Sie blickte nur wie hypnotisiert auf die Frau, die sich hinter den Mattershines langsam und mit winzigen Schritten näher schob. Ein schmales, ebenmäßiges und klassisch schönes Gesicht. Goldfarbenes,
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