Das Lied der Maori
nicht. Sie hatte nur Augen für den kleinen Hund. Doch Fleurettes und Gwyns Blicke trafen sich.
»Wer ist der Jüngling?«, erkundigte sich Gwyn. »Großer Gott, ich sitze jetzt seit einer Woche neben ihr und versuche, ein Gespräch anzufangen, aber sie hat während der ganzen Reise keine drei Sätze gesagt. Und nun ...«
Fleurette verzog den Mund. »Tja, unser William versteht es eben, die richtigen Fragen zu stellen. Der Mann arbeitet seit einigen Wochen für Ruben. Ein heller Kopf mit klarer Zukunftsplanung. Er wirbt heftig um Elaine.«
»Elaine? Aber sie ist doch noch ein Kind ...« Gwyn brach ab. Elaine war fast zwei Jahre älter als Kura. Und bei der dachte alles an eine baldige Verheiratung.
»Wir finden auch, sie ist zu jung. Ansonsten aber würde es passen. Ein irischer Landadeliger ...«
Gwyneira nickte mit leicht verwundertem Ausdruck. »Donnerwetter. Was macht der denn hier, statt in Irland seine Scholle zu pflegen? Oder haben seine Pächter ihn rausgeschmissen?« Auch in Haldon kamen inzwischen gelegentlich englische Zeitungen an.
»Eine lange Geschichte«, meinte Fleurette. »Aber lass uns jetzt erst mal dazwischengehen. Wenn Kura sich gleich damit einführt, Lainie eifersüchtig zu machen, sehe ich schwarz für eine glückliche Familienzusammenführung.«
William hatte sich inzwischen vorgestellt und ein paar kluge Bemerkungen zum altirischen Liedgut gemacht, das sich anschickte, die Welt zu erobern.
»Es gibt eine Fassung von
The Maids of Mourne Shore
zu einem Text von William Butler Yeats. Wir Iren mögen es eigentlich nicht, wenn man alte gälische Lieder auf Englisch neu textet, aber in diesem Fall ...«
»Ich kenne das Lied. Heißt es nicht
Down by the Sally Gardens?
Meine Hauslehrerin hat es mir beigebracht.«
Kura unterhielt sich offensichtlich prächtig, was inzwischen auch Ruben aufging.
»William, möchten Sie sich nicht wieder um den Laden kümmern?«, fragte er freundlich, aber bestimmt. »Meine Familie und ich werden gleich nach Hause fahren, aber Miss Helen schickt Ihnen bestimmt gern einen Zwilling als Hilfe herüber. Sie müssen ja die neuen Waren aufnehmen ... Und es wird bestimmt weitere Gelegenheiten geben, sich mit meiner Nichte über Musik auszutauschen.«
William verstand den Wink, verabschiedete sich und fühlte sich mehr als geschmeichelt, als Kura enttäuscht zu sein schien. Elaine hatte er über der Begegnung mit ihr ganz vergessen, aber jetzt, als er sich abwenden wollte, machte sie sich bemerkbar.
»William, sieh mal, was ich habe!« Strahlend hielt sie ihm ein hechelndes Wollknäuel vor die Nase. »Das ist Callie. Sag guten Tag, Callie!« Sie nahm ein Hundepfötchen und winkte damit. Das Hündchen bellte leise, aber empört. Elaine lachte. Noch vor ein paar Stunden hätte William dieses Lachen unwiderstehlich gefunden, aber jetzt ... neben Kura wirkte Elaine kindlich.
»Ein niedlicher kleiner Hund, Lainie«, sagte er ein wenig gezwungen. »Aber ich muss jetzt gehen. Dein Vater will sich frei nehmen, und es gibt viel zu tun.« Er zeigte auf die Ladung, die abgeladen und registriert werden musste.
Elaine nickte. »Ja, und ich muss mich jetzt wohl um diese Kura kümmern. Hübsch ist sie ja, aber sonst wohl ziemlich uninteressant.«
Georgie kam zu dem gleichen Ergebnis, nachdem er auf dem ganzen Weg nach Nugget Manor versucht hatte, Kura in ein Gespräch zu verwickeln. Das Mädchen kam von einer Schaffarm, also versuchte er es zunächst mit Viehzucht.
»Wie viele Schafe habt ihr denn jetzt wohl auf Kiward Station?« Kura gönnte ihm keinen Blick.
»Um die zehntausend, Georgie«, antwortete stattdessen Gwyn. »Aber die Zahl schwankt. Und wir konzentrieren uns auch mehr und mehr auf Rinder, seit es diese Kühlschiffe gibt, die Fleischexporte ermöglichen.«
Kura zeigte keine Regung. Aber sie war Maori. Sicher wollte sie über ihr Volk sprechen.
»Habe ich
kia ora
eigentlich richtig ausgesprochen?«, erkundigte er sich. »Du sprichst sicher fließend Maori, Kura?«
»Ja«, entgegnete sie einsilbig.
George zermarterte sich das Hirn. Kura war schön, und schöne Menschen sprachen bestimmt am liebsten von sich selbst.
»Kura-maro-tini ist ein ungewöhnlicher Name!«, sagte der Junge. »Hat es eine besondere Bedeutung?«
»Nein.«
George gab es auf. Es war das erste Mal, dass er sich für ein Mädchen interessierte, doch scheinbar war dieser Fall hoffnungslos. Sollte er jemals heiraten, dann zumindest eine Frau, die mit ihm sprach, egal wie sie
Weitere Kostenlose Bücher