Das Lied der Maori
Kirchweg.
Der junge Mann verhielt sein Pferd im letzten Moment und setzte sein schönstes, entschuldigendes Lächeln auf. Ihm musste jetzt rasch eine Ausrede für sein Hiersein einfallen.
Die Frau wirkte nicht gerade wie eine Viehzuchtspezialistin. Vielleicht hielt sie ihn für einen der Arbeiter. William grüßte höflich und fügte eine Entschuldigung an. Wenn er jetzt gleich weiterritt, würde die Frau sich bestimmt kaum an ihn erinnern.
Sie antwortete zunächst knapp und desinteressiert, ohne zu ihm aufzublicken. Erst nach der Entschuldigung gönnte sie ihm einen genaueren Blick. Anscheinend war ihr an seiner Sprache etwas aufgefallen. William verfluchte seinen Oberschichtakzent. Er sollte wirklich versuchen, sein Irisch zu kultivieren!
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich habe Sie auch nicht bemerkt. Die Wege hier sind eine Zumutung.« Die Frau verzog unwillig das Gesicht, versuchte es dann aber doch mit einem schüchternen Lächeln. Sie war hellblond und blass. Ihr Haar, ihr Teint und ihre graublauen Augen wirkten verwaschen, ihr Gesicht war ein wenig lang, aber fein geschnitten. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie wollen doch nicht wirklich zu den Maoris?«
So, wie die Frau das Wort aussprach, konnte man meinen, es handele sich um einen Kannibalenstamm, den zu besuchen ein Akt des Wahnsinns wäre. Und sie selbst ginge gut als Missionarin durch – mit ihrem dunkelgrauen schlichten Kleid und dem schwarzen langweiligen Hut. Unter dem Arm trug sie eine Art Gesangbuch.
William lächelte. »Nein, ich wollte nach Haldon«, behauptete er. »Aber ich fürchte, das ist nicht der richtige Weg.«
Die Frau runzelte die Stirn. »Ja, Sie haben sich arg verritten. Dies hier ist der Fußweg zwischen dem Maori-Lager und Kiward Station ... das Gebäude hinter Ihnen ist das Herrenhaus, und am Maori-Lager sind Sie vermutlich auch schon vorbeigeritten, aber man sieht es nicht von der Straße aus. Am besten reiten Sie zum Haus zurück und nehmen den Hauptweg.«
William nickte. »Wie könnte ich dem Rat so reizender Lippen zuwiderhandeln?«, fragte er galant. »Aber was macht eine junge Lady wie Sie bei den Maoris?«
Letzteres interessierte ihn wirklich. Auch diese Frau sprach schließlich lupenreines Oberschichtenglisch. Sie näselte dabei sogar ein wenig.
Die Frau verdrehte die Augen. »Man hat mich beauftragt, bei diesen Wilden so etwas wie ... nun, seelsorgerisch tätig zu werden. Der Pfarrer bat mich, sonntags in den Lagern eine Andacht zu halten. Die frühere Lehrerin, Miss Helen, hat das wohl immer gemacht, und danach Mrs. Warden ...«
»Mrs. Gwyneira Warden?«, fragte William verwundert, auch wenn er damit seine Tarnung gefährdete. Doch Miss Gwyn war ihm so gar nicht wie eine Betschwester erschienen. Zu Miss Helen passte das eher.
»Nein, Mrs. Marama Warden. Sie ist selbst Maori, aber sie ist wieder verheiratet und lebt jetzt bei O’Keefe Station im nächsten Lager. Da hält sie auch Schule.« Die junge Lady sah nicht aus, als mache ihr die Missionstätigkeit allzu viel Freude. Aber halt – hatte sie eben nicht von »Lehrerin« gesprochen? Konnte er hier auf die Gouvernante von Kura Warden gestoßen sein?
William konnte sein Glück kaum fassen. Zumindest, wenn das Verhältnis zwischen Kura und ihrer angebeteten Miss Witherspoon wirklich so eng war, wie das Mädchen in Queenstown angedeutet hatte.
»Sie unterrichten bei den Maoris?«, erkundigte er sich. »Nur dort oder ... ich wage es kaum zu hoffen ... Aber Miss Warden sprach so liebevoll von Miss Heather!«
»Liebevoll« hatte Kura zwar nicht von ihrer Lehrerin gesprochen, bestenfalls von einem Zweckbündnis gegen all die Kulturbanausen in ihrer Umgebung. Aber immerhin war diese Miss Witherspoon die Einzige auf Kiward Station, der sie überhaupt halbwegs freundschaftlich gegenüberstand. Und die junge Frau brauchte eindeutig ein wenig Aufmunterung.
Über Miss Witherspoons strenges Gesicht zog sich denn auch ein strahlendes Lächeln. »Wirklich? Kura hat mit Wärme von mir gesprochen? Ich habe sie sehr gern, obwohl sie oft ein bisschen kühl ist. Aber woher kennen Sie Kura überhaupt?«
Forschend blickte die junge Frau ihn an, und William bemühte sich um einen schuldbewussten, zugleich etwas schelmischen Ausdruck. Konnte es wirklich sein, dass Kura nichts von ihm erzählt hatte? Dann schien Miss Heather aber Schlüsse zu ziehen.
»Warten Sie mal. Sie sind doch nicht ...?« Miss Witherspoons misstrauischer Blick wich Begeisterung. »Doch,
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