Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
sich gut vorstellen, hier sechs Monate zu verbringen.
»Sieh dir mal den Wintergarten an, Jess. Das wäre ein perfektes Atelier. Der Makler hat mir erzählt, dass er schon einmal als Atelier genutzt wurde. Du hättest genügend Licht und eine Aussicht, die du malen kannst, wenn dir danach ist.«
»Ich weiß nicht, Simon, ich habe seit Jahren nicht mehr gemalt.«
Er sah sie vorwurfsvoll an. »Malen ist wie Radfahren, das verlernt man nicht. Liebling!« Er zog sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn. »Ich sage doch nicht, dass du malen musst, nur, dass dir dieser Raum zur Verfügung steht, wenn dir danach ist.« Er persönlich war der Meinung, dass Malen eine gute Therapie für sie war, eine Meinung, die Nikko teilte. Doch nach elf Jahren Ehe kannte er Jessicas Dickkopf. Ob und wann sie malte, war alleine ihre Entscheidung. Für alle Fälle hatte er ihre Staffelei, ein paar Leinwände und ihre Farben herbringen lassen. »Was möchtest du jetzt als Erstes tun? Auspacken oder essen?«
Sie betrachtete erst die drei Taschen mit Lebensmitteln auf der Küchenbank, danach Simon und fragte dann: »Wer kocht denn?«
»Ich.« Er hob die Hand wie ein Schuljunge, der eine Antwort für seine Lehrerin hat. »Kann ich nicht prima Steaks mit Pommes frites machen?«
Sie musste lächeln. Sie wussten beide, dass das ungefähr das Einzige war, was er zustande brachte, ohne irgendwelche Nahrungsmittel vollständig zu ruinieren. »Mit Salat?«
»Klar.«
»Okay. Du fängst an, während ich die Lebensmittel verstaue.« Sie sah sich in der Sechziger-Jahre-Küche nach einer Speisekammer um, und da sie keine entdeckte, verstaute sie die Dosen und anderen Dinge in dem Schrank, der am weitesten vom Herd weg war.
Als sie gegessen hatten und ihren Kaffee tranken, klingelte das Telefon über der Arbeitsfläche in der Küche. Simon nahm den Hörer ab.
»Ja, ich bin es. Danke, ja, wir richten uns ein. Wie bitte? Oh, ich verstehe. Natürlich.«
Jessica war lange genug die Frau eines Arztes, um zu wissen, was der ernste Gesichtsausdruck und sein steifer Tonfall zu bedeuten hatten.
»Gut, sagen Sie mir noch einmal, wie ich dorthin komme. Im Dunkeln sieht die Straße anders aus … Danke, ich bin in zehn Minuten da. Bereiten Sie den Patienten schon einmal vor.«
Vorsichtig legte er auf. »Ein Blinddarmdurchbruch, sagt die Oberschwester. Ich muss weg.«
Sie lächelte ihn an und zog dann die linke Augenbraue hoch. »Natürlich. Ich finde nur, sie hätten damit warten können, bis du den Abwasch erledigt hast.«
»Sieh an, dieser Job hat also auch seine Vorteile.« Simon blickte zur Decke. »Ich danke dir, Gott.« Dann fügte er hinzu: »Kommst du allein hier klar?«
»Simon! Ich bin kein Kind. Alles in Ordnung. Nun geh schon.«
So konnte sie in Ruhe auspacken, ohne dass er ständig um sie war, konnte ein Bad nehmen und später das Haus gründlich untersuchen und sich an die Umgebung gewöhnen, die in den nächsten Monaten ihr Zuhause sein würde. Sie musste versuchen, das Neue zu akzeptieren anstatt dagegen anzukämpfen. Komisch, früher hatte sie alles Neue gemocht, hatte gerne Herausforderungen angenommen, bis … Sie war in den letzten Monaten eine andere Person geworden. Sie seufzte. Wann würde die alte Jessica zurückkommen? Die Jessica, die sie gewohnt war, die richtige Jessica Pearce.
Nikko hatte gesagt, dass Zeit das beste Heilmittel gegen die Trauer war. Sie glaubte ihm nicht. Wenn sie an Damian dachte, fühlte sie sich noch genauso schlecht wie am Tag seines Todes. Das Einzige, was sich verbessert hatte, war ihre Fähigkeit, den Schmerz auszuschließen. Doch er blieb in ihr, tief, dunkel, gärend. In einer Ecke ihres Herzens herrschte schwarze Leere, und sie wusste, dass sie sie nie ganz würde füllen können, so sicher, wie sie wusste, dass morgen die Sonne aufgehen würde. Mit den Jahren würde sie nur lernen … damit zu leben.
Da sie wusste, wohin diese Gedanken führen würden, erhob sie sich energisch und begann aufzuräumen. Um etwas Gesellschaft zu haben, schaltete sie das Radio ein, doch es rauschte so stark, dass sie zu dem Schluss kam, es müsse kaputt sein. Sie drehte das verdammte Ding ab und lauschte der Stille, während sie arbeitete.
Nach einem erfrischenden Bad tappte Jessica im Bademantel zum hinteren Wintergarten, um in die Dunkelheit hinauszusehen. Sie konnte nur ein paar blinkende Lichter erkennen, wahrscheinlich von dem rotgedeckten Bauernhaus. Selbst die Insekten der Nacht waren verstummt.
Es
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