Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
war ein langer Tag gewesen, und der Müdigkeit in ihrem Inneren nachgebend lehnte sie sich an die Fensterscheibe. Sie blickte auf die Uhr. Fast Mitternacht. Bei Simons Patient musste es Komplikationen gegeben haben. Sie wusste, dass der Patient in den besten Händen war. Das war eines der ersten Dinge, die ihr an Simon aufgefallen waren, als sie ihn das erste Mal getroffen hatte – er hatte schöne Hände. Seine langen, schmalen Finger passten eher zu einem Künstler oder Musiker als zu einem Arzt, doch Ärzte waren auf ihrem Gebiet schließlich auch Künstler. Ihre Gedanken wanderten weiter. Als ihr ein Gähnen entschlüpfte, unterdrückte sie es mit der Hand.
Ohne auch nur ein paar Sekunden Vorwarnung, die ihr vielleicht die Gelegenheit gegeben hätten, anders darauf zu reagieren, überfiel sie plötzlich die Stille und damit ein Gefühl der Einsamkeit, das so stark war, dass es ihr den Atem verschlug. So weit weg von allem, was sie kannte, allem Komfort, den sie gewohnt war, von Familie, Freunden, den Arbeitskollegen, allen vertrauten, sicheren Dingen und vor allem von Damian und seiner letzten Ruhestätte. Das war alles, was ihr von ihm geblieben war: ein marmorner Grabstein, Goldbuchstaben, Zement, die einzigen Beweise, dass er je außerhalb ihrer Erinnerung existiert hatte. Ihre Finger verkrampften sich, und sie presste sie gegen das Glas. Wie konnte sie es ertragen, ihn nie wieder zu berühren, nie wieder mit den Fingern durch das feine Haar zu fahren, seine Wärme zu spüren oder seine Kinderstimme zu hören? Nie wieder würde seine kleine Hand ihr Gesicht berühren, nie wieder würde er ihr die Arme entgegenstrecken, damit sie ihn hochhob, niemals wieder … niemals …
Einen Augenblick versteifte sie sich und hielt den Atem an, während sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Die Anstrengung erwies sich als umsonst. Fast wie in Zeitlupe traten die Tränen aus ihren Augen und liefen ihr über die Wangen. Die Tropfen wurden zu einem Bach und schließlich zu einem Strom, während ihr Körper von Trauer geschüttelt wurde, ihre Emotionen hervorbrachen und kostbare Erinnerungen sie überfluteten, die sich nicht aufhalten ließen. Du musst aufhören, dir das anzutun. Wie soll es dir je besser gehen, wenn du dich nicht beherrschen kannst?
Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, doch dann fiel ihr ein, dass Nikko gesagt hatte, es sei in Ordnung, zu weinen, dass sie damit ein Ventil für ihre Gefühle öffnete. Er hatte gesagt, es könne heilsam sein, solange sie aufhören konnte, wenn sie merkte, dass der Druck nachließ, und die nachfolgende, tiefe Depression verhindern.
Schließlich ließ das Zucken ihrer Schultern nach, und das Schluchzen wurde zu einem Schniefen. Dann gewann das gewohnte Gefühl der Leere, als ob sie alle Kraft verlassen hätte, die Oberhand. Erschöpft wandte sie sich vom Fenster ab und ging ins Schlafzimmer. Sie zog die Decke zurück und schlüpfte zwischen die Laken, schloss die Augen und betete, wie sie es jetzt gewohnt war, um einen traumlosen Schlaf …
Auf dem Felsen saß eine Gestalt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in den Händen, nachdenklich. Um sie herum schwarze Wirbel, die sie wie eine willkommene Decke einhüllten. Sie war die Dunkelheit gewohnt, fühlte sich wohl in ihr. Eine sanfte Brise zupfte an ihren Haaren und blies es ihr ins Gesicht. Plötzlich spürte sie etwas. Zuerst war es nur ein leises Flüstern. Sie erstarrte, lauschte, angestrengter als je zuvor. Sie stand auf, wandte sich vom Meer dem Land zu, obwohl es viel zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Was war das?
Das Geräusch in der Nacht … nur ein kleines Vibrieren im Kosmos … war da. Spannung zerriss sie fast, als das Geräusch lauter wurde. Nein, sie irrte sich nicht.
Ihr Kopf neigte sich zur Seite, als sie versuchte, sich vollkommen auf einen Laut zu konzentrieren, den nur wenige wahrnehmen konnten. Es war wichtig, dass sie ihn hören und verstehen konnte.
Der Wind trug Wellen der Verzweiflung heran. Dann war das Geräusch plötzlich überall um sie herum, wie ein Wirbelwind, an- und abschwellend, tiefer werdend, als ob er jemandem die Lebenskraft aussaugte. Wellen von Traurigkeit. Verzweiflung. Ein Mensch in Qualen.
Sie überließ sich erst den Vibrationen, dann den ganzen Gefühlen. Oh, sie waren stark, sehr stark.
Sie hob ihr Gesicht zu den Sternen, während ein triumphierendes Lächeln um ihre von der kalten Nachtluft aufgesprungenen Lippen spielte. Sie flüsterte denen, die
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