Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
für ein Problem keine Erklärung und keine Lösung gab. Doch an jenem Tag hatte er den Kopf geschüttelt und mir nicht einmal ins Gesicht gesehen, stattdessen wirkte er genauso abwesend wie meine Mutter.
Ich weiß auch nicht mehr weiter, Rixa
, sagte er.
Ich habe alles versucht, was in meiner Macht steht.
Und es waren nicht so sehr diese Sätze als der Klang seiner Stimme, der mich ihm glauben ließ. Er war leer. Ausgebrannt. Zutiefst verwundet. Seines jüngsten Sohnes und seiner Frau beraubt. Ein Gespenst in einem Geisterhaus, das einmal sein Zuhause gewesen war.
Und also glaubte ich ihm, glaubte ihm seine Trauer. Fuhr allein zurück nach Berlin. Redete erneut auf meine Mutter ein. Wies die Pensionswirtin an, ihr Frühstück zu bringen. Kaufte ihr Brötchen und Fertigmahlzeiten zum Abendbrot. Bis sie eines Tages nicht mehr da war. Sie habe eine Wohnung gefunden, erklärte mir die Pensionswirtin. Die Wohnung, in der ich jetzt saß. Kurz darauf lieferte ein Umzugsunternehmen dann die Möbel aus Köln, die sie haben wollte. Und unsere Villa wurde von Grund auf renoviert und umgeräumt – nicht von meinem Vater, sondern von Kornelia, die jünger als meine Mutter war, lauter, und vor allem fröhlich. Die ihm kaum ein Jahr später einen neuen Sohn gebar und zwei Jahre darauf noch eine Tochter.
»Lass uns nicht streiten, Rixa«, sagte er jetzt. »Das hätte Dorothea nicht gewollt, und jetzt, da sie tot ist …«
Meine Hand tat weh, so fest hielt ich mein Handy umklammert. Ich versuchte, meine Finger zu lockern, mich zu entspannen.
»Wir waren so oft in Mecklenburg, und jetzt habe ich trotzdem das Gefühl, ich weiß überhaupt nichts.«
»Dorothea war so, Rixa. Nicht erst seit Ivos Tod.«
»Wie war sie?«
»Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Selbstgenügsam vielleicht. Sie sprach gern in Andeutungen und noch lieber schwieg sie. Als ich sie kennengelernt habe, fand ich das faszinierend. Später habe ich mich oft gefragt, was genau sie eigentlich so eisern in sich verschloss und ob es überhaupt etwas zu verbergen gab.«
»Ich habe ein Foto gefunden, das Opa im Kreis von SA-Leuten zeigt. Weißt du was darüber?«
»SA? Nein. Dein Großvater war doch Pfarrer.«
»Ich weiß. Trotzdem.«
Wir schwiegen erneut, beide, und das fühlte sich anders an als zuvor. Nicht wirklich komfortabel, nicht schön, aber richtig.
»Ich bin einmal in Sellin gewesen«, sagte ich nach einer Weile. »Als ich noch sehr klein war, mit Mama und Oma, nur wir drei, ein Ausflug von Poserin aus muss das gewesen sein, mit deinem Auto.«
»Ich kann mich daran nicht erinnern…« Er zögerte, schien ehrlich zu überlegen. »Möglich wäre das schon. Ein- oder zweimal haben Dorothea und Oma Elise tatsächlich etwas allein unternommen, wenn wir in Poserin waren.«
»Du bist nicht meine Tochter. Das haben sie in Sellin gesagt. In der Kirche.«
»Das hast du doch wohl nicht auf dich bezogen?«
»Ich war damals jedenfalls ziemlich verzweifelt.«
»Das warst du früher oft, Rixa, du hast viel geweint, als du noch klein warst. Auch aus nichtigen Anlässen. Du warst immer sehr leicht aus der Bahn zu werfen.«
»Du bist nicht meine Tochter«, wiederholte ich und merkte, dass der Satz, laut ausgesprochen, etwas mit mir machte.
»Steigere dich da nicht in etwas hinein, Rixa! Ich habe vor dem Kreißsaal gestanden bei deiner Geburt, rein durften wir Männer ja damals noch nicht, aber – Moment mal, ich –« Ich hörte Schritte und eine Frauenstimme, die seinen Vornamen rief, der Rest war gedämpftes, unverständliches Gemurmel. »Tut mir leid«, sagte er, als er wieder am Telefon war. »Ich muss jetzt mal kurz unterbrechen und den Kindern Gute Nacht sagen.«
»Wir sind ja auch durch.« Ich ging zu dem Telefontisch im Flur, wo Stift und Block lagen, und notierte Alex’ Flugdaten, versprach meinem Vater, ihn abzuholen, versprach auch, mich bald wieder zu melden.
Meine Nudeln waren schlimmer verkocht als die in der Crewmesse, wenn die C-Besetzung den Dienst an den Pfannen und Töpfen übernehmen musste. Ich goss das Wasser ab und aß sie trotzdem, mit reichlich Pesto. Irgendwann sprang Othello auf den freien Stuhl mir gegenüber. Er saß sehr aufrecht, mit brav nebeneinandergesetzten Vorderpfoten, und musterte mich. Ich schob ihm meinen Teller hin.
»Das schmeckt dir nicht, wetten?«
Er schnupperte und schien tatsächlich die Nase zu rümpfen, blieb aber sitzen. Vielleicht war das ein Fortschritt in unserer Beziehung, vielleicht hatte
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