Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
erwiderte eine zweite, heisere Männerstimme.
» Es ist alles bereit. Ihr werdet bereits erwartet. Bis bald und gute Fahrt! «
Der Weinhändler bestieg den Bock, und der Karren setzte sich in Bewegung. Annas Handflächen wurden feucht, während sich die Räder auf dem gepflasterten Weg drehten. Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel und verharrte bewegungslos. Nur wenige Herzschläge später hörte sie, wie das Tor hinter ihnen geschlossen wurde. Leise zischend ließ sie die Luft aus den Lungen entweichen. In ihrer Vorstellung versammelte sich auf dem Klosterhof eine Traube Frauen, die erregt durcheinanderredeten und ausschwärmten, um sie zu suchen. Was würden Clementia und die Mutter Oberin von ihr denken, wenn sie erst ihr Verschwinden bemerkten? Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Nur ein paar Stunden Vorsprung, mehr erhoffte sie sich gar nicht.
Während das Gefährt über die Wege rumpelte, versuchte sich Anna von ihren Ängsten abzulenken. Aber wie sollte ihr das gelingen, wenn ihre Glieder von der unbequemen Haltung schmerzten und die Füße längst eingeschlafen waren? Nur langsam drang die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, den ersten, den wichtigsten Schritt bewältigt zu haben. Das Koster lag tatsächlich hinter ihr. Nun galt es, in einem günstigen Moment vom Karren zu springen, bevor der Weinhändler ihn in Richtung Augsburg lenkte.
Irgendwann begann der Mann zu summen. Zunächst waren es Volksweisen, bald jedoch sang er auch eher derbe Schanklieder und entlockte Anna damit ein Schmunzeln. Die Ordensschwester aus der Brauerei schien sich in sicherer Entfernung zu befinden, ansonsten hätte der Mann sich so etwas gewiss nicht erlaubt. Je weiter sich das Fuhrwerk von den klösterlichen Mauern entfernte, umso mehr fand sie zu ihrem inneren Gleichgewicht zurück, das Schnauben und Wiehern der Zugpferde tat sein Übriges. Es musste ungefähr Mittagszeit sein, und Annas Zuversicht wuchs. Bald hatte sie genug Vorsprung herausgeholt.
Da drang die Stimme der Brauereivorsteherin an ihr Ohr. » Was haltet Ihr von einer Brotzeit, lieber Baldewin? Schwester Almuth hat uns einen gut gefüllten Korb mit Proviant mitgegeben. «
» Nichts lieber als das « , antwortete der Weinhändler mit unüberhörbarer Freude.
Bald darauf lenkte er den Karren abseits der Straße und blieb stehen. Anna lauschte und spürte, wie Baldewin vom Bock stieg. Von der Erschütterung, die seine Bewegungen auslösten, polterte eins der Fässer gegen ihr Schienbein, und sie unterdrückte einen Schmerzenslaut. Die lebhaften Geräusche wiesen darauf hin, dass die Tiere getränkt wurden und sich die Reisenden in der Nähe niederließen. Auch Annas Magen rebellierte, aber sie versuchte es zu ignorieren.
» Mir wäre es lieb, wenn wir die Herberge noch vor Sonnenuntergang erreichen. Ich habe dem Wirt versprochen, ihm einen kleinen Besuch abzustatten. Ihr wisst ja, wie es sich mit abseits gelegenen Häusern verhält, lieber Herr Baldewin « , vernahm sie die Stimme der Nonne. » Je später die Stunde, umso gottloser das Gesindel, das dort einkehrt. «
» Das lässt sich nicht leugnen « , räumte der Weinhändler ein. » Beeilen wir uns also. «
Der Weinhändler stieg auf, und sie setzten die Fahrt fort. Annas Gedanken kreisten unentwegt. Die beiden wollten also in einer Herberge übernachten. Die Frage war nur: Lag diese noch auf dem Weg nach Nürnberg? Sie musste sich entscheiden. Entweder sie ging das Risiko ein und schlief im Karren. Von dort aus am frühen Morgen unbemerkt zu verschwinden, dürfte nicht allzu schwierig sein. Oder sie flüchtete, sobald der Weinhändler und die Schwester ihr Zwischenziel erreichten, und verbrachte die Nacht im Freien. Ohne auch nur eine Ahnung zu besitzen, wo genau sie sich befand. Nein, die Vorstellung behagte ihr gar nicht.
Während die beiden Wagen weiter ihrem Ziel entgegenrollten und der Mittag in den Nachmittag überging, wurde die Luft allmählich feucht und ließ Anna frösteln. Die Sonne war schon im Begriff unterzugehen, als der Weinhändler den Karren von der Straße lenkte. Der Herbergswirt empfing die Reisenden, und die Tiere samt Wagen wurden untergebracht. Mucksmäuschenstill wartete Anna, bis Stille einkehrte, und kroch bäuchlings in die Dunkelheit. Hermann erschrak, als sie direkt vor seinen Vorderhufen landete, und schnaubte. Besänftigend strich sie ihm über den Hals. Ihre Glieder waren verspannt, und sie reckte sich, um sie zu lockern. Gierig trank sie aus ihrem Wassersack und setzte
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