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Das Locken der Sirene (German Edition)

Das Locken der Sirene (German Edition)

Titel: Das Locken der Sirene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiffany Reisz
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sind.“
    „Das ist nicht wahr. Frauen haben genauso ein Recht auf ihre Körper und ihre Sehnsüchte wie Männer. Nora hat mich mal beschuldigt, ein steifer Engländer zu sein, und sie hat damit in gewisser Weise recht. Ich bin aber alles andere als prüde.“
    „Das sagen Sie, und trotzdem scheint der Gedanke, wie eine Frau zulässt, dass man ihr Gewalt antut, Sie abzustoßen.“
    „Natürlich stößt mich der Gedanke ab. Es gibt Grenzen dessen, was gesund ist.“
    „Gesund – das ist eine interessante Wortwahl. Sind Sie sehr vertraut mit Lepra?“
    Zach runzelte die Stirn. Das war eine merkwürdige Frage.
    „Nicht mehr als jeder andere auch, glaube ich.“
    „Ich spreche das aus einem bestimmten Grund an.“ Søren begann langsam durch den Raum zu gehen. „Während meiner Zeit im Priesterseminar arbeitete ich die Sommer über in einem Lager für Leprakranke in Indien. Es gibt ein erstaunlich großes Unwissen über diese Krankheit. Die meisten glauben, dass sie die Glieder befällt, die dann abfaulen, richtig? Ein Mythos. Lepra beziehungsweise die Hansen-Krankheit, wie sie auch genannt wird, ist eine Nervenkrankheit. Sie zerstört die Nerven, die Schmerz empfinden können. Und sobald man die Fähigkeit verliert, Schmerz zu empfinden, passiert es schnell, dass man sich die Hand verbrüht, während man Essen über einem offenen Feuer kocht. Oder man tritt in einen kleinen Nagel und bemerkt es nicht, bis der Arzt diesen Nagel eine Woche später aus einer eiternden Wunde herauszieht. Es gab Tage“, fuhr Søren fort und nahm eine Peitsche vom Haken an der Wand, um sie eingehend zu untersuchen, „an denen ich morgens von Schreien aufwachte. Wenn man keinen Schmerz empfindet, schläft man einfach friedlich weiter, während nachts eine Ratte kommt und einem die Finger abkaut.“
    „Schmerz ist ein notwendiges Übel“, erkannte Zach. Er musste gegen die kalten Schauer ankämpfen, die Sørens hypnotische Rede bei ihm hervorrief. „Aber es ist immer noch ein Übel.“
    „Schmerz ist ein Geschenk Gottes. Der Schmerz lässt uns verstehen und schenkt uns Weisheit. Schmerz ist Leben. Und hier geben wir den Schmerz so freimütig, wie wir Lust schenken.“
    Zach beobachtete Sørens Hand, die den Griff der Peitsche umfasste und ihn durchbog. Jede Bewegung des Priesters war präzise, seine Finger waren so geschickt wie die eines Künstlers, die Muskeln schlank und hart wie die eines Tänzers. Und auf seinem Gesicht ein Ausdruck des Friedens, des intelligenten Desinteresses. Ein wahrer Glaubender, das stand für Zach fest. Aber woran glaubte er? Zach fiel eine Zeile aus
Das verlorene Paradies
wieder ein –
Es ist besser, in der Hölle zu regieren, als im Himmel zu dienen
. Irgendwie, erkannte Zach, hatte Noras Priester einen Weg gefunden, beides zu tun.
    „Wenn Schmerz ein Zeichen von Liebe ist“, sagte Zach, als Søren die Peitsche zurück an die Wand hängte, „dann muss ich sehr lieben.“ Er dachte an Grace und fragte sich, was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, wo er war und was er tat.
    Sørens Augen hefteten sich auf Zach, und was er in diesem Blick las, war tiefes Mitgefühl. „Ich glaube, das tun Sie wirklich.“
    Zach hielt dem Blick des Priesters so lange stand wie möglich, aber schon bald wurde es für ihn zu intim, und er wandte sich ab. Ein guter Priester, so hatte Griffin Søren genannt. Er war bestimmt sehr geschickt darin, seinen Schutzbefohlenen die Beichte abzunehmen.
    An die vierte Wand des Raumes war ein Bild gemalt. Zach nahm die Öllampe und warf Licht auf das vertraute Monster an der Wand.
    „Die Lektion des Jabberwocky“, sagte er. Er studierte die Linien und Farben des Gemäldes. Søren trat neben ihn. „Ich habe bei Nora im Regal ein Buch gesehen –
Der Jabberwocky
. Sie – ich vermute, dass Sie es waren – haben hineingeschrieben:
Vergiss nie die Lektion des Jabberwocky
. Aber es ist ein Unsinnsgedicht. Es hat keine Moral.“
    „Natürlich hat es die“, erwiderte Søren. „Ein schöner Prinz kämpft gegen einen schrecklichen schönen Drachen und tötet ihn. Dann schleppt er den Drachenkopf an den Sattel gebunden nach Hause. Die Lehre, die wir ziehen sollen, ist doch offensichtlich: Wenn man ein Monster ist, sollte man sich vor Rittern in schimmernder Rüstung in Acht nehmen. Eine gute Lektion für Eleanor.“
    Zach hörte heraus, was Søren damit unterschwellig andeutete. „Nora ist kein Monster. Natürlich ist sie auch nicht perfekt. Aber sie ist ein guter Mensch, und

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