Das Los: Thriller (German Edition)
Kurz erinnerte er sich an die erste Nachricht von besagtem Boten, die ohne Absender gewesen war: Misstrauisch hatte er sie in Empfang genommen und zunächst Calzabigi dahinter vermutet, der möglicherweise erneut versuchte, ihn reinzulegen. Doch die darin enthaltene Information, wonach Calzabigi in London von der Generalin la Mothe ausgehalten worden und als unverheirateter Junggeselle aufgetreten war, musste als zu ehrenrührig erachtet werden, als dass der Italiener sie selbst verfasst haben konnte. Der Direktor der Lotterie lebte also offensichtlich mit einer Hure und einem Waisenkind unter einem Dach, schloss Hainchelin. Eine Tatsache, auf die man den König bei passender Gelegenheit stoßen konnte. Nein, ganz offensichtlich meinte es hier jemand nicht gut mit seinem speziellen Freund. Umso gespannter war er, worum es nun ging.
»Für weitere Anmerkungen, die Lotterie betreffend, kommt morgen früh um dreiviertel fünf in den Neubau der katholischen Kirche. Allein«, las er laut.
»Das ist in einer Stunde!«, entfuhr es Adolf.
Hainchelin ignorierte die Bemerkung und las die Botschaft ein zweites Mal, diesmal leise.
»Mein Herr, Ihr werdet dort nicht hingehen, oder?«, fuhr der Kammerdiener fort. »Es ist nicht sicher um eine solche Uhrzeit. Der Bau der Kirche stockt, nur die Mauern und das Dach stehen. Wie man hört, treibt sich dort gerade bei Nacht das Gesindel herum, das vom Branntwein ganz toll ist.« Fast weinerlich hatte er gesprochen.
»Du hast recht«, pflichtete Hainchelin ihm bei. »Es wäre unvorsichtig, dorthinzugehen, vermutlich sogar unklug. Aber«, er erhob sich bei diesen Worten und streckte mit einem ächzenden Ausruf seine Glieder, »ich werde es dennoch tun. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Bestell mir rasch eine Droschke!«
Die Glocken des nahen Doms schlugen zur Dreiviertelstunde, als Hainchelin der Kutsche entstieg und mit schnellen Schritten über die leeren Gassen in den Rohbau der katholischen Kirche eilte. Ein Holzzaun versperrte den Eingang zu der stillgelegten Bauruine, an einigen Stellen war er jedoch aufgebrochen, und so konnte Hainchelin problemlos durchschlüpfen. Der Grundstein zum Kirchenbau war schon vor gut fünfzehn Jahren gelegt worden. Der König hatte das Grundstück und genügend Material für die Wände und Dächer gespendet, sodass diese zügig hochgezogen worden waren. Der restliche Bau sollte jedoch aus Kollekten der katholischen Kirche in anderen Ländern finanziert werden, und da diese während des Krieges komplett ausfielen, ruhte der Bau nun schon seit Jahren.
Hainchelin erschrak, als etwas über seinen Fuß huschte. Im Schein einer kleinen Lampe, die er vor sich hertrug, erkannte er eine Ratte, die mit einem ärgerlichen Quieken zwischen einem Stapel Bretter verschwand. Er versuchte, zwischen den zahlreichen Baumaterialien den Eingang auszumachen. Nicht weit entfernt glaubte er so etwas wie das Gerüst eines Portals zu erkennen. Vorsichtig bahnte er sich den Weg über den aufgeweichten Grund. Mit kalten, nassen Füßen erreichte er endlich das, was einmal das Kirchenschiff werden sollte. Jeder seiner Schritte hallte von den Wänden wider, die in der Dunkelheit feucht glänzten.
»Ist hier jemand?«, rief er und lauschte.
Von weit hinten vernahm er ein hohles Tropfen, ansonsten war alles ruhig. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierherzukommen. Er beschloss, den Raum einmal bis zur Mitte zu durchschreiten und dann umzukehren.
»Schön, dass Ihr gekommen seid!«, ertönte plötzlich hinter ihm eine Stimme.
Er fuhr herum, doch die Lampe reichte nicht, um bis zu demjenigen zu leuchten, der zu ihm gesprochen hatte.
»Nehmt das Licht weg, Ihr müsst mich nicht erkennen!«
»Ihr redet wie … Calzabigi«, entfuhr es Hainchelin. »Derselbe Akzent!«
»Wir sind beide Italiener!«, antwortete der Unsichtbare. Die Worte kamen jetzt von ein wenig weiter rechts, er schien ihn zu umrunden.
»Warum habt Ihr mich hierherbestellt?«, fragte Hainchelin. Er versuchte seine Unsicherheit mit Ärger zu überspielen.
»Warum seid Ihr gekommen?« Der Fremde sprach ruhig, mit fast spöttischem Ton.
»Ihr habt mir neulich eine Nachricht geschickt, in der Ihr mich über Calzabigis Liebschaften aufgeklärt habt …«
Keine Antwort.
Hainchelin schwenkte die Lampe, als könne er ihr Licht in die Dunkelheit werfen. »Seid Ihr noch da?«
»Ja, sicher.« Die Stimme kam jetzt von etwas weiter weg.
»Spielt Ihr Blinde Kuh mit mir?« Nun war Hainchelin
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