Das Los: Thriller (German Edition)
hatte man, in Gedenken an den verstorbenen Kapellmeister Graun, dessen Oper Cleopatra e Cesare aufgeführt. Obwohl die Sänger allesamt Landsleute von ihm waren und der Gesang in italienischer Sprache ihn besonders in seinen Bann hätte ziehen sollen, war die Musik heute an ihm abgeperlt wie Wasser auf einem Lotusblatt.
Hainchelin wartete seine Antwort nicht ab, sondern wandte sich Marie zu.
»Warum habt Ihr Euch ausgerechnet diese Szene gemerkt, Madame Calzabigi?« Den letzten beiden Worten verlieh er einen hämischen Unterton.
Marie schaute hilflos zu Calzabigi herüber.
Plötzlich brandete hinter ihnen Jubel auf. Calzabigi fuhr herum. Durch das Spalier von Kostümierten konnte er einen kurzen Blick auf den König erhaschen, der in einigen Metern Entfernung an ihnen vorbeistolzierte. Die edlen Stoffe, reich verziert mit goldenen und silbernen Elementen, standen im Kontrast zum Schnitt der bäuerlichen Tracht, die Friedrich trug. Für einen Moment hielt Calzabigi den versteinerten Gesichtsausdruck des Königs für eine Maske, dann erkannte er jedoch, dass Friedrich bis auf eine Schicht starken Puders unmaskiert war. In einer Hand hielt er die Miniatur einer Gitarre, mit der er abwechselnd zu beiden Seiten ins Publikum grüßte.
»Was für eine verrückte Zeit, dieser Karneval!«, rief Hainchelin und stieß einen lauten Jauchzer aus. »Schaut, Madame Calzabigi, der König als Bauer verkleidet. Und seht Euch um im Saal. Die verarmten Adeligen, diese nutzlosen Blutegel am Arsch des Königs, kommen als König oder Pantalone zum Karneval. Ich wette, unter manchem Königskostüm hier steckt ein Bauer oder Lakai. Karneval ist wie das Lotteriespiel Eures verehrten Lotteriedirektors. Beides macht aus armen Schluckern mit viel Firlefanz scheinbar Könige! Und aus dem König einen Tölpel!« Er lachte laut auf.
Marie machte einen Schritt auf Calzabigi zu und hakte sich zu seiner Überraschung bei ihm ein.
»Vor allem aber macht beides die Menschen glücklich, wie Ihr sehen könnt, wenn Ihr Euch umschaut«, erwiderte sie. »Ist der Dottore , den Ihr darstellt, nicht bekannt für seine Besserwisserei?« Marie trat vor und deutete auf Hainchelins Kostüm. Sie sprach mit einer Verachtung und Überheblichkeit, die Calzabigi noch nie bei ihr wahrgenommen hatte und für die er sie hätte küssen können, was er jedoch trotz seines benebelten Gehirns unterließ.
Hainchelin schien nicht minder überrascht über Maries Auftritt, sodass es ihm die Sprache verschlug. Schließlich nahm er einen Schluck aus seinem Becher, wobei er mehr auf sein Hemd als in den Mund schüttete. Der Wein schien ihm jedoch die Worte zurückzubringen.
»So mache ich meiner Verkleidung wenigstens alle Ehre, nicht so wie dieser Harlekin, der sich hinter einem Frauenzimmer versteckt!«, stieß er verächtlich aus und zeigte auf Calzabigis Gewand, das aus bunten Flicken zusammengesetzt war.
Calzabigi trat hinter Marie hervor. »Das Verstecken ist für gewöhnlich ja Euer Gebiet!«, fauchte er.
»Was soll das heißen?« Hainchelin schritt auf ihn zu, sodass beide Männer sich direkt gegenüberstanden.
Calzabigi hatte keine üble Lust, Hainchelin eine überzuziehen.
Plötzlich trat eine Horde fröhlich singender Frauen und Männer zu ihnen heran, und ehe Calzabigi sich versah, wurde er zu beiden Seiten untergehakt und tanzend davongezogen. Er drehte sich um und suchte nach Marie, sah sie jedoch nirgends. Auch Hainchelin hatte er schon bald aus den Augen verloren. Stattdessen war er nun umringt von fröhlich johlenden Menschen, die ausgelassen zu der Musik tanzten.
Eine Frau in einem Ballerinakostüm warf sich an seinen Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Etwas zu unsanft schob er sie zur Seite und befreite sich aus der Umklammerung.
»Marie! Marie! Marie!«
Doch sein Rufen ging im Geschrei der Umstehenden und den Klängen des Orchesters unter.
Lachende Münder unter Masken, von denen eine der anderen glich, flogen an ihm vorbei. Ausladende Kostüme, Beine und Hände streiften ihn. Endlich gelangte er wieder zu der Stelle, an der er wenige Minuten zuvor den Disput mit Hainchelin ausgetragen hatte. Ein Pärchen mit Tiermasken lehnte nun an der Säule und blickte ihn herausfordernd an, wobei der Mann ihm die Zunge herausstreckte. Calzabigi reckte sich und hielt vergebens nach Maries Kleid Ausschau. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Was, wenn dieser Hainchelin ihr etwas angetan hatte? Eine Traube aus Röcken, nicht weit entfernt, weckte seine
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