Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
sich nicht frei. Ich fand ihn eigentlich sehr nett mit all den Verrücktheiten, die ein kreativer Mensch braucht. Wir reden jetzt auch wieder miteinander.
Mit Beginn der Proben hielt ich mich täglich für mehrere Stunden im Friedrichstadtpalast auf. Bald bekam ich Probleme mit der Luft, die Schleimhäute der Atemwege schwollen an. Im Friedrichstadtpalast gab es eine Belüftungsanlage, die alle Gerüche und Unsauberkeiten verteilte, vielleicht sogar Schimmelpilzsporen, das Gebäude war möglicherweise feucht.
Ich ging zu meiner Ärztin, die mir Kortison empfahl, damit ich die Zeit bis Weihnachten durchstand.
Die ersten Aufführungen waren ein Erfolg. Gayle, eine geborene Komödiantin, machte es super, Erkan sang wunderbar, und es machte mir Freude und Spaß, mit diesen guten Kollegen auf einer Bühne zu stehen und teilweise sogar im Duett zu singen. Aber dann begannen die Pannen.
Eines Tages aß ich morgens ein Olivenbrot, biss auf einen Stein und verlor eine Zahnkrone. Natürlich Feiertag, keine Arztpraxis offen, außerdem war die Zeit zu knapp. Ich klebte das Zahnteil mit einem Kaugummi notdürftig fest, das hatte mir einmal mein Zahnarzt empfohlen. Während der Vorstellung, beim Duett mit Erkan – wir sangen zusammen den »Kleinen Trommelmann« und wir schauten uns dabei direkt ins Gesicht – überkam mich die Angst, jetzt könnte es passieren.
»Ich bin so froh, dass nichts geschehen ist«, sagte ich nachher zu ihm, »es hätte dir mein Zahn entgegenfliegen können…« Er war ein netter Mann, er lachte.
Nach der dritten Aufführung verging uns das Lachen allerdings. Die Sopranistin hatte es erwischt, sie fiel aus wegen Bronchitis. Ich selbst spürte wachsendes Unbehagen, aber das Kortison half vorerst noch.
Nachdem damit die hohe Stimme im Satzgesang (dem mehrstimmigen Gesang) ausgefallen war, gab es erst einmal keine Zwischenprobe, und wir sangen weiter, als sei nichts geschehen. Aber es klang völlig schräg und unausgewogen, die Höhe fehlte, der Satzgesang stimmte nicht mehr.
Auch die Figur des Weihnachtshasen, den die Sopranistin dargestellt hatte, war einfach nicht mehr da, sie gehörte aber eigentlich zur Grundidee. Es gab im Friedrichstadtpalast keine zweite Besetzung – etwas, das normalerweise an allen größeren Häusern vorhanden ist, falls man schnell Ersatz für einen ausgefallenen Künstler braucht. Ich war überrascht, wie locker das hier gehandhabt wurde. Erst Tage später änderte der musikalische Leiter endlich mit uns die Satzgesänge. Der Hase fiel zukünftig einfach aus, merkwürdigerweise ging das.
Nun durfte allerdings niemand mehr schlapp machen, die ganze Revue wäre damit in Gefahr geraten – ein ziemlicher Druck für uns Sänger. Also durchhalten auf Teufel komm raus, was im Winter keine leichte Aufgabe ist. Prompt war ich die Nächste, die Probleme bekam.
Der Regisseur hatte sich für eine Szene etwas ganz Besonderes ausgedacht: In einem Bild sangen wir alle gemeinsam ein Weihnachtsmedley und umringten dabei einen riesigen amerikanischen Oldtimer. Dieses »Schlachtschiff«, das bestimmt gut wirkte, hatte nur einen Nachteil – es stank bestialisch. Denn es wurde nicht etwa auf die Bühne gezogen, sondern herauf- und wieder heruntergefahren. Die Abgase des Dieselmotors hingen wie eine dicke Wolke zwischen uns, wir standen mittendrin und mussten singen. Sänger atmen tiefer ein beim Singen. Und Diesel ist toxisch!
Einmal in dieser Qualmwolke fiel mir schlagartig ein Abend in Bitterfeld ein, Jahrzehnte vorher – ein Bandkonzert im Kulturhaus, hinter Scheiben, die niemals sauber wurden, in Dämpfen, die kein Geruchsvertilger tilgen würde, vor einem Publikum, das von der täglichen Arbeit hier ganz sicher an Lungen und Haut verseucht war. Fahle Haut, der äußere Eindruck entsprach auch dem inneren Zustand. Noch heute bedauere ich die Menschen, die dort lebten, vor allem die Kinder. Das war alles dem Aufbau einer neuen Gesellschaft geschuldet, egal wer dabei seine Gesundheit verlor. Wer nicht gehen konnte, war schlecht dran.
Bei uns herrschte wohl damals auf der Bühne Sauerstoffmangel – er regte aber seltsamerweise unsere Spielfreude nur noch mehr an. Wie im Blindflug stürzte ich mich in die Musik und habe den Abend als einen Akt grandioser Trance in der Erinnerung behalten. Aber während wir damals in unserer Spielfreude nicht beeinträchtigt waren, reagierte ich nun, ein paarmal zehn Jahre älter, mit einem Allergieschub.
Ich sprach mit dem Regisseur, bat um
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