Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
der Zeitpunkt kommen, wo ich auf die Lieder von Franz verzichten musste, auf mein Repertoire?
Mein Vertrauen war hinüber!
Sechs Tage später riss László das Ruder herum. Er war schon einmal an der Grenze nach Westberlin abgewiesen und zwecks »Klärung« zur ungarischen Botschaft geschickt worden, wo man ihm prompt den Reisepass für kurze Zeit entzogen hatte. Das war auf Anweisung der DDR geschehen, denn die ungarischen Behörden griffen nur im äußersten Notfall zu solch bürgerfeindlichen Mitteln.
Am 6. Oktober 1980 passierte ihm das Gleiche wieder. »Herr Kleber«, unterwies ihn der Grenzposten am Übergang Bornholmer Straße, »Sie fahren zurück und fragen in Ihrer Botschaft nach, warum Sie nicht ausreisen dürfen.«
László sah rot. Er befürchtete, seinen Pass erneut und vielleicht endgültig zu verlieren. Entschlossen kam er nach Hause und stellte mich vor vollendete Tatsachen: »Ich fahre noch heute nach Ungarn, Benjamin nehme ich mit.«
Mir wurde schwindlig. Die Gedanken rasten, mein Herz war schwer. Wie würde Benjamin diese Flucht überstehen? Er war noch so klein, gerade ein Jahr alt. Was würde aus uns, aus mir werden? Konnte ich überhaupt nachkommen, oder würden sie mich vorher abholen und ins Gefängnis stecken? Ich hatte mit so einer plötzlichen Veränderung nicht gerechnet. Ein Problem jagte das andere.
László hatte sich offenbar schon einen Plan zurechtgelegt: »Du weißt von nichts, das ist wichtig. Ich fahre zu meiner Mutter, ich denke, sie wird mitkommen. Wir werden von Ungarn aus nach Westberlin fahren, von dort werde ich bei Franky anrufen, der hat ein Telefon und wird dich sofort holen. Vor Zeugen musst du zeigen, wie überrascht du bist. Und dass du von nichts gewusst hast!«
Noch während er redete, packte ich wie in Trance Benjamins Fläschchen und etwas Babynahrung für die Reise zusammen. Ich dachte nur immerzu: Wann seh ich euch wieder, wann?
László hatte vor, mit unserem Oldtimer zu fahren – in der Hoffnung, im Westen dafür einen guten Preis erzielen zu können. Er hatte eine Vorliebe für alte Autos und vor Kurzem einen Mercedes 170V gekauft, Baujahr 1936. Später erzählte er mir, dass er an der tschechoslowakischen Grenze merkwürdig beäugt worden war. Ein Mann in einem Oldtimer, auf der Rückbank eine Bettdecke, in die ein Baby gewickelt war. Die misstrauischen Grenzer, winkten László aber schließlich durch, mit seinen Papieren war ja alles in Ordnung. Die Fahrt war lang und anstrengend mit dem Kleinen, der, kaum dass er wach war, nach vorn zum Vater krabbelte und von diesem wieder zurück nach hinten bugsiert werden musste. Zum Glück fuhr der Oldtimer nur langsam.
In Ungarn war meine Schwiegermutter schnell bereit, ihren Sohn in den Westen zu begleiten, zumal sie und ihr Mann gerade in Scheidung lebten. Der durfte als Polizist bloß nichts davon mitbekommen. Am nächsten Tag fuhr László zunächst mit Benjamin allein weiter nach Wien und gab ihn dort bei einem ihm bekannten älteren Ehepaar ab, zwei freundlichen Menschen, gewiss überrascht davon, dass sie plötzlich ein Baby zu versorgen hatten. Gut, dass ich davon nichts wusste, ich wäre ausgerastet! Ich kannte diese Leute nicht.
Dann nahm er den Zug zurück über Ungarn und weiter zu mir nach Berlin, um unauffällig unseren Volvo zu holen. Damit fuhr er wieder nach Ungarn, um seine Mutter einzuladen und zu Benjamin nach Wien zu bringen. In Wien bekam er Hilfe von Georg Danzer, den wir von einigen Begegnungen her kannten. Dessen Freund hatte ein abgelegenes Häuschen im Wald, in dem Großmutter und Enkel vorübergehend unterkamen. Währenddessen fuhr László noch einmal nach Ungarn, um den Wagen der Mutter aus Gyöngyös zu holen, das hatte er ihr versprochen. Danach flog er weiter nach Westberlin und rief wie geplant bei Franky an, der postwendend zu mir kam und mich informierte. Jetzt musste ich die Unwissende spielen, aufgeregt genug war ich. Es war mit Abstand die größte schauspielerische Leistung meines Lebens.
In seinem Bericht an den Minister für Kultur schrieb der von uns noch am gleichen Abend herbeigerufene Dieter Gluschke von der Generaldirektion: »In dem Gespräch mit Veronika Fischer gewann ich den Eindruck – Genossin M. Oppel und Frank Hille bestätigten mir dies –, dass V. Fischer von diesem Gang der Dinge völlig überrascht war. Sie befand sich in einem Zustand der Hilflosigkeit. Mehrfach betonte sie, nunmehr würde es für sie nur noch darum gehen können, das Kind
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