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Das Luxemburg-Komplott

Das Luxemburg-Komplott

Titel: Das Luxemburg-Komplott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Ditfurth
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schaute auf die Uhr, es war fast neun. Er fror. Die Fenster der Wohnung waren beleuchtet, wenn auch nicht besonders hell. Dann fiel ihm ein, wie er es früher gemacht hatte. Im fahlen Licht der Straßenlaterne suchte er Steinchen. Als er ein paar gefunden hatte, warf er sie nacheinander gegen die Fenster. Er überlegte gerade, ob er neue Steinchen suchen oder nach Hause gehen sollte, da öffnete sich ein Fenster. Margarete schaute heraus, starrte ihn kurz an, dann rief sie: »Ich komme runter.«
    Er hörte bald ihre Schritte im Flur, dann öffnete sich die Tür. Sie streckte ihm die Hand entgegen, vielleicht weil sie einer Umarmung ausweichen wollte. Sie behielt seine Hand länger in ihrer, dann sagte sie: »Du bist ja durchgefroren, komm mit hoch. Ich habe leichtsinnigerweise eingeheizt.«
    Oben in der Küche strahlte der Herd Wärme ab. Weniger, als sie vor dem Krieg gewohnt waren, aber Zacharias empfand es als Luxus. Er zog seinen Mantel aus und hielt die Hände über den Herd. Sie bot ihm einen Ersatzkaffee an, der Kessel dampfte auf dem Herd. Als sie den Kaffee gebrüht hatte, fragte er, um etwas zu sagen: »Und die Eltern?«
    »Die liegen schon im Bett. Dort ist es am wärmsten. Und du machst Revolution?«
    »Ja. Endlich.«
    »Aber in Russland geht es drunter und drüber«, sagte sie. »Soll es hier auch so kommen?«
    »Hier geht es schon längst drunter und drüber, schon vor der Revolution. Und wie in Russland wird es hier nicht, auch wenn wir von denen viel lernen können.«
    »Aber doch hoffentlich nicht, wie man sich gegenseitig umbringt.«
    »Du liest die falschen Zeitungen.«
    »Mit irgendwas muss man den Ofen anzünden.« Sie lächelte.
    Er suchte in ihrem spitz gewordenen Gesicht nach den vertrauten Konturen. Es war schmal geworden, und der Hunger hatte Falten an den Mundwinkeln gezogen. Die Wangen waren eingefallen, was die Backenknochen hervortreten ließ. Er trank einen Schluck, schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie sie früher ausgesehen hatte. Das Bild, das man von einem Menschen mitnimmt in die Ferne, verändert sich im Lauf der Zeit. Vielleicht passt es sich an die eigenen Wünsche an oder an die Gefühle, die man für einen Menschen empfindet.
    Eine Frage quälte ihn, seitdem er zurück war in Berlin. Soll ich sie danach fragen? Und wenn sie antwortet, ist dann alle Hoffnung vorbei? Wenn du nicht fragst, bleibt dir wenigstens die Einbildung.
    Aber dann konnte er es nicht mehr zurückhalten. »Irgendwann hast du aufgehört, nach mir zu fragen.«
    Sie schaute ihn freundlich an. »Ja, das hört sich nicht gut an. Aber ich werde mich nicht entschuldigen.«
    »So meinte ich es nicht.«
    »Wie denn sonst?«
    »Du hast geglaubt, ich sei tot.«
    »Ich habe gehofft …«
    »Dass ich tot bin?«
    »Lass mich ausreden …«
    »Verzeih!«
    »Lass mich ausreden.« Sie lächelte. »Es ist wie früher, weißt du. Lange sagst du nichts, und dann unterbrichst du einen.«
    Er lachte.
    »Ich hatte gehofft, du hast eine andere, vielleicht in Russland. Dass war ja das letzte, was wir von dir hörten, dass du in Russland warst. Ich hatte dir gewünscht, du hättest eine andere, weil die andere Möglichkeit gewesen wäre, du wärst gefallen.«
    Sie schauten sich an. Seine Hand schob sich zu ihrer. Sie ließ es sich gefallen, dass er sie sanft streichelte.
    »Es war schrecklich, immer wieder zu deinen Eltern zu laufen und immer wieder die gleiche Auskunft zu hören: Nichts, der Junge hat sich nicht gemeldet. Hoffentlich lebt er noch. Ob er in Gefangenschaft ist? Immer und immer wieder diese Sätze. Und gleichzeitig siehst du den Verfall, wie die Menschen in wenigen Monaten alt werden, sterben. Wie sie die Grippe nicht aushalten, weil sie zu lange gehungert haben. Ich habe das immer doppelt erlebt, bei dir zu Hause und bei mir. Das hält man nicht aus. Jedenfalls halte ich es nicht aus.«
    Die Tür öffnete sich. Eine alte, gebückte Frau starrte Zacharias an. »Du hier?«
    Nun erkannte er Margaretes Mutter. Er stand auf und reichte ihr die Hand. Ihre war zerbrechlich, er traute sich nicht, sie zu drücken. Sie nickte mehrmals, dann verließ sie die Küche.
    »Sie ist am Ende, Vati auch«, sagte Margarete nüchtern. »Die nächste Grippe bringt sie um, alle beide.«
    »Es sei denn, die Leute kriegen mehr zu essen«, sagte Zacharias, ohne wirklich daran zu glauben.
    »Und warum bist du gekommen?« fragte sie.
    »Früher hast du das nicht gefragt.«
    Sie lächelte warm, als sie sich erinnerte. »Früher

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