Das Luzifer Evangelium
Wenn der Text wirklich akkadisch ist, wird es schwierig sein, einen historischen oder geografischen Zusammenhang zu den Yeziden zu finden. Ich habe mich da ein bisschen eingelesen. Ihr Glaube ist eine Mischung aus gnostischer Kosmologie, gekoppelt mit Elementen aus dem Islam und dem Christentum. Sie leugnen aber, Satan zu huldigen, wie wir ihn begreifen. Sie beten fliegende Gotteswesen an, die wir als Engel bezeichnen würden.«
»Und was ist mit der Sprache der rechten Spalte?«
»Komplett unverständlich. Ich habe die Zeichen einigen Sprachwissenschaftlern und einem Mathematiker gezeigt. Keiner von ihnen hat auch nur im Ansatz etwas verstanden. Du solltest die Fachleute an der hebräischen Universität in Jerusalem fragen. Oder an den Unis in Bagdad oder Kairo. Ich bin schließlich Experte für nordische Mittelalter-Handschriften und nicht für orientalische Manuskripte aus vorchristlicher Zeit.«
»Wie alt ist das Pergament?«
»Das ist das Merkwürdigste von allem. Wir haben das Material untersucht und eine C14-Analyse gemacht.«
»Und? Was habt ihr herausgefunden?«
»Nichts. Das Material muss irgendeinen Prozess durchlaufen haben. Wir können einfach nicht herausfinden, von welchem Tier das Leder stammt. Die Chemiker sind ratlos. Wir kriegen kein Ergebnis. Und auch das Resultat der C14-Bestimmung ergibt keinen Sinn.«
Am nächsten Morgen erhielt ich eine E-Mail von Dekan Trygve Arntzen. Meinem Stiefvater. Nach Mamas Tod ließen wir beide unsere gut dreißig Jahre alten Masken fallen und gaben uns aus vollem Herzen unserer gegenseitigen Missbilligung hin. Er wollte wissen, wo ich steckte. Eine Gruppe hervorragender Wissenschaftler der renommierten amerikanischen Harvard-Universität wolle mich sprechen. Es sei von großer Wichtigkeit. Er hatte eine Liste mit Namen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen angehängt. Weder Neil McHull noch John Scott noch Mark DeValois standen darauf.
Ich habe es Trygve Arntzen zu verdanken, dass ich nicht schon längst Professor bin. Er gönnt mir diese Beförderung nicht, wie ich ihm nie Mama gegönnt habe. Irgendwie haben sich die Dinge zwischen uns gründlich verhakt. Er war früher einmal Mamas Liebhaber gewesen. Als er Mama ein halbes Jahr nach Papas Todessturz heiratete, wurde ich zu einem unangenehmen Anhängsel, das beide an die Tragödie erinnerte, der sie ihre Ehe zu verdanken hatten. Papa hatte versucht, Trygve Arntzen zu töten. Ich kann ihn verstehen. Aber Papa war ungeschickt. Diese Eigenschaft habe ich von ihm geerbt. Er hatte sich an den Karabinern und Seilen zu schaffen gemacht, doch nicht Arntzen, sondern Papa stürzte zu Tode. Als Mama Arntzens Heiratsantrag errötend annahm und zu seiner bezaubernden Gattin und besten Freundin wurde, blieb ich mit glänzenden Augen draußen im Regen stehen. In diesem Moment war mir klar, dass ich für immer zu den Ausgestoßenen zählen würde. Ich weiß, dass ich verbittert klinge, voller Selbstmitleid. Später bekam ich einen Halbbruder, der meinen Platz als Mittelpunkt im Leben meiner Mutter einnahm. Steffen. Er ist alles, was ich nicht bin. Immobilienmakler. Gut aussehend. Ein charmanter Frauenheld. Mama war fürchterlich stolz auf ihn. Seit seiner Geburt schmachte ich in seinem Schatten.
Die Art, wie Trygve Arntzen sich in seiner E-Mail ausdrückte – fordernd, herablassend, arrogant, seinem Wesen entsprechend –, deutete darauf hin, dass er nicht daran zweifelte, dass ich mit den Amerikanern Kontakt aufnehmen würde. Und zwar sofort. Schließlich waren es Amerikaner. Wissenschaftler einer der renommiertesten Universitäten der Welt.
Fast dreißig Jahre schon war ich jetzt Arntzens Stiefsohn. Es sagt viel aus, wenn man bedenkt, wie schlecht er mich kannte.
VIII : Lilith
1
Ich lauschte der Stille und dem Flug der Fledermäuse in der Dunkelheit.
Das Schlafzimmer befand sich im ersten Stock am Ende einer knarrenden Treppe hinter einer schwergängigen Tür. Auf einem Regalbrett lagen zerfledderte Taschenbücher, mehrere Jahrgänge Das Beste aus den Sechzigern und ein Stapel Groschenromane. Das Bett selbst stand unter der Schräge neben einem kleinen Dachfenster. Es roch nach Holz und altem Schlaf. Durch die Scheibe strömte die Dunkelheit in den Raum.
Ich glaube nicht an Gespenster. Aber wenn es sie gab, würden sie hier in diesem Haus spuken, auf dieser abgelegenen Alm. Ist es wirklich undenkbar, dass ein Ort Bilder und Stimmungen aus der Vergangenheit bewahren kann? Dass Gefühle noch wie stumme Schreie, ein
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