Das Mädchen auf den Klippen (German Edition)
haben kaum etwas erreicht. Maureen hat in den letzten zehn Ja hren nur gelernt, sich einigermaßen von allein anzuziehen und auch selbständig zu essen und zu trinken. Alle Therapien, die versucht wurden, sind fehlgeschlagen. Es ist, als hätte sie an jenem furchtbaren Tag ihre Seele verloren.“
„Ihr Vater hat das Kinderzimmer in Seerose House mit Szenen aus dem Buch Pu, der Bär bemalt. Vermutlich hat sie die Geschichten von Pu genauso geliebt, wie mein Sohn. Ich habe das Buch bei mir und will versuchen, ihr etwas daraus vorzulesen. Wenn wir Glück haben, hört sie mir zu. Dieses Buch könnte der Schlüssel zu ihrer Seele sein.“
Um die Lippen der Heimleiterin huschte ein mitleidiges Lächeln. „Sie können es versuchen, Mrs. Baker, nur seien Sie bitte nicht enttäuscht, wenn Maureen darauf nicht reagiert. Glauben Sie mir, wir haben alles erproben, um ihr Interesse zu wecken. Maureen ist sogar mehrmals erfolglos hypnotisiert worden. Nicht einmal in Trance spricht sie. Um ehrlich zu sein, ich habe in Bezug auf sie alle Hoffnung aufgegeben.“
„In einigen Jahren wird sie erwachsen sein. Was geschieht dann mit ihr?“
„Sie wird in ein Heim für Erwachsene kommen“, erwiderte Alice Long. „Es lässt sich leider nicht ändern. Hier bei uns sind nur Kinder und junge Menschen bis zu achtzehn Jahren. Zum Glück hat Mr. Winslow seiner Tochter genügend Geld hinterlassen. So wird Maureen stets in einem privaten Heim leben können.“
Eine Schwester brachte Janice in einen hellen, freundlichen Aufenthaltsraum, dessen Türen zum Park offen standen. Es ging hier ziemlich laut zu. Einige der Jugendlichen waren mit Brettspielen beschäftigt, andere bastelten. Erst auf dem zweiten Blick erkannte man, dass sie alle auf die eine oder andere Weise geistig behindert waren.
Maureen saß in einem Sessel am Fenster. Sie bewegte sich nicht. Die Hände im Schoß gefaltet, starrte sie nach draußen, dennoch war sich Janice sicher, dass das Mädchen nichts von dem wahrnahm, was um sich herum vor sich ging. Es schien sich völlig abgekapselt und in seine eigene Welt zurückgezogen zu haben.
„Hallo, Maureen“, sagte sie und berührte die Hand der Fünfzehnjährigen. „Ich bin Janice. Ich würde gern deine Freundin sein.“
Maureen reagierte nicht, bewegte nicht einmal ihre Hände.
„Ich würde vorschlagen, wir bringen Maureen in den Park, dort ist es nicht so laut“, sagte die Schwester. Es gelang ihr, das Mädchen zum Aufstehen zu überreden. Teilnahmslos ließ es sich in den Park hinausführen.
„Am besten, wir setzen uns hierher“, schlug Janice vor, als sie eine Bank erreicht hatten, die unter einer mächtigen Kastanie stand. „Schau nur, Maureen, wie schön es hier ist.“ Sie wies auf die Themse, die in einigen Metern Entfernung zwischen ihren grünen Ufern in Richtung London floss.
Maureen reagierte nicht. Wenn Janice es nicht besser gewusst hätte, wäre sie überzeugt gewesen, dass das Mädchen nichts sehen konnte. Seine Augen starrten blicklos in die Ferne.
Die Schwester half ihr, Maureen dazu zu bringen, sich auf die Bank zu setzen. „Kann ich Sie allein lassen, Mrs. Baker?“, fragte sie.
„Ja, gehen Sie nur. Ich werde schon zurechtkommen“, erwiderte die junge Frau. Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie Maureens Hand und drückte sie. Das Mädchen reagierte nicht. Seine Hand ruhte schlaff in Janices.
„Ich weiß, dass dir etwas Furchtbares widerfahren ist, Maureen“, sagte sie und strich liebevoll über die Wange des Mädchens. „Ich möchte dir helfen. Bitte, vertrau mir. Ich...“ Sie blickte Maureen betroffen an. Bis zu diesem Augenblick war es nur das Gefühl gewesen, dieses Kind kennen lernen zu müssen, nun war da noch etwas. Janice spürte tief in ihrem Herzen, dass Maureens Schicksal mit ihrem zusammenhing. Warum, das wusste sie nicht. Aber Maureen brauchte Hilfe und sie war sich aus einem ihr unerklärlichem Grund sicher, dass sie ihr auch helfen konnte.
„Mein kleiner Sohn hatte ein Lieblingsbuch“, sagte sie und zwang sich, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. „Es heißt, Pu, der Bär. Ich wohne jetzt in eurem Haus am Meer und ich weiß, dass auch du dieses Buch geliebt hast.“
Maureens Blick war weiter in die Ferne gerichtet. Janice fragte sich, ob das Mädchen sie überhaupt wahrnahm.
Sie griff in die große Tasche, die sie bei sich trug. „Ich bin heute in unserer Londoner Wohnung gewesen, Maureen, und ich habe das Buch mitgebracht, um dir daraus vorzulesen.“ Sie
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