Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
vom Dämon der Schuld, und die Leute, die ihn gleich darauf umringten, wirkten nicht minder verzweifelt. Sie brauchten keine spitzfindigen Erläuterungen, für sie ging es um Leben und Tod.
»Der hat es doch nicht anders gewollt!«, rief ein Mann. »Bis aufs Blut gereizt hat uns der, unsere Stadt beleidigt – und dann soll ein Berliner nicht einen Herzschlag lang mal seinen Kopf verlieren?«
»Ist es das, was geschehen ist?«, fragte Thomas. »Habt ihr einen Herzschlag lang den Kopf verloren?«
»Was wissen denn wir?«
»Es war doch so voll, man bekam doch nichts mit.«
»Einen Denkzettel sollte der kriegen, ein paar auf den Buckel, die er nicht so schnell vergisst, aber so was niemals!«
»Wir sind doch keine Mörder – wir doch nicht!«
Thomas wusste, wenn er das Entsetzliche nicht in Worte fasste, wenn er ihnen nicht half, dem Schmerz und der Schuld ins Auge zu sehen, würde beides in ihnen weiterwühlen bis ins Grab. »Ihr sagt, ihr seid keine Mörder«, begann er. »Aber Ihr habt den heiligen Leib eines Menschen genommen, ihn in ein Feuer geworfen und wie wertlosen Unrat verbrannt.« Das Ungeheuerliche der Tat stand jetzt klar und ausgesprochen zwischen ihnen. Flüchtig wunderte sich Thomas, dass es ihn überhaupt nicht erschreckte. Vielleicht ist das meine Art von Demut, dachte er. Das hart erworbene Wissen, dass wir zu allem fähig sind. Zu unfasslicher Güte wie zu unsäglicher Grausamkeit.
»Steckst du mit denen unter einer Decke, Mönch?«, schrie ein Bursche. »Auf deren Seite bist du, willst, dass wir alle gemetzelt werden und wie Verbrecher zur Hölle fahren?«
Andere schrien dasselbe, und ein zaudernder Fausthieb traf Thomas an der Schulter. »Nein«, sagte er. »Ich will, dass wir leben, dass unsere Seelen errettet werden. Ich bin auf unserer Seite.«
»Und was kannst du für uns tun?«
»Nichts«, erwiderte er aufrichtig. »Nur mit euch beten und euch dann beschwören: Geht zurück in eure Häuser. Legt euch in eure Betten, bleibt beieinander und bewahrt, so gut ihr irgend könnt, die Ruhe. Und Morgen früh oder so rasch es möglich ist, geht in eure Pfarrkirchen und legt die Beichte ab.«
»Warum nimmst nicht du uns die Beichte ab?«, rief ein Mann mit verrußtem Gesicht, halb höhnisch, halb hoffnungsvoll.
»Weil ich dazu nicht berechtigt bin.«
»Ist dies hier kein Notfall?«, schrie die Frau, die noch immer vor ihm kniete, mit tränenüberströmtem Gesicht. »Darf in der Not nicht jeder Geistliche, der einem Christenmenschen helfen will, die Sakramente spenden?«
Thomas dachte nach. Ganz so einfach war es nicht, und zudem war er kein Geistlicher, aber er wusste, was die Frau ihm sagen wollte, und nach kurzer Überlegung musste er ihr Recht geben.
»Ha!«, rief der Mann mit dem Ruß im Gesicht, »du kneifst also, weil deine Oberen es dir verbieten, richtig? Unser Seelenheil schert dich nicht, wenn dein Papst dir befiehlt, deine gesalbten Finger von uns Verdammten zu lassen!«
Thomas straffte den Rücken. »Ich kann euch jetzt nicht die Beichte abnehmen«, sagte er. »Ihr seid nicht in Not, ihr könnt als freie Menschen nach Hause gehen und eure Seelsorger darum ersuchen. Aber ich verspreche euch: Ich werde euch hier, auf diesem Platz, die Sakramente spenden, wenn es tatsächlich kommt, wie ihr sagt. Wenn der Heilige Stuhl gebietet, die Kirchen dieser Stadt zu versiegeln, werde ich hier stehen und Euch Gottes Tröstung austeilen.«
»Ist das dein Ernst, Pfaffe?«
»Ich heiße Thomas«, sagte er. »Und ihr habt mein Wort, so wahr Gott mir helfe.«
Etwas wie Jubel brach aus, ein wenig Lärm, in dem Erleichterung sich Luft machte. Thomas ließ ihnen Zeit, ehe er erneut die Stimme hob. »Lasst uns jetzt beten und Gott um Stärke und Vergebung bitten.«
Vielleicht hatte er das nie zuvor getan. Gott um Vergebung gebeten. Es war, so begriff er, die Bitte, sich selbst vergeben zu dürfen. Er sprach sein Gebet auf Deutsch, wählte die Worte, wie sie ihm in den Sinn kamen, damit ein jeder ihn verstand. Hinterher sprach er das Paternoster, das Ave-Maria und das kurze Gloria-Patri auf Lateinisch, weil es für die Versammelten die vertraute Sprache des Herrn war. Als er die Hände hob, um Gottes Segen für die gepeinigten, verstörten Menschen zu erbitten, erschien ihm nichts daran falsch. Flüchtig blickte er zur Seite und sah Pater Antonius an, der ihm zunickte, bevor er ebenfalls über einer Ansammlung von Betenden seinen Segen aussprach.
Zuerst zögerlich, doch bald in immer
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