Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
betrüblichen Aufgabe begleitet. Der Guardian hat Euren Namen genannt.«
Eine Aufgabe, um diese Zeit? Seit der Vesper bei Sonnenuntergang mussten mindestens zwei Stunden vergangen sein. Rief man ihn wieder ins Georgen-Hospital? Er war gern dort. Nie, seit jenen Tagen im Herbst, hatte er sich so sehr im Frieden mit sich selbst gefühlt wie bei der Arbeit mit den Kranken. Im Grunde war es keine Arbeit, und im Grunde hatte er auch vor jenem Herbst keinen solchen Frieden gekannt.
»Ich bin bereit«, sagte er.
»Nehmt Eure Gugel«, erwiderte der Novizenmeister und wies auf den wärmenden Überwurf mit der Kapuze, der am einzigen Haken in der Zelle hing. »Löscht den Kienspan.«
»Was habe ich zu tun?«
»Das erkläre ich Euch auf dem Weg.« Antonius ging durch den dunklen Gang voraus. Mit drei langen Schritten schloss Thomas zu ihm auf. Mit dem Novizenmeister hatte er bisher nichts zu schaffen gehabt, aber Lentz Harzer hatte ihn als einen Mann geschildert, dem durch seine Arbeit mit den jungen Brüdern nichts Menschliches fremd war. Er galt als einer, der zupackte und sich nicht leicht erschüttern ließ.
»Es ist etwas Schlimmes geschehen«, sagte er zu Thomas. »Eine Bluttat. Der Guardian bereitet ein sofortiges Seelenamt vor, doch es müssen auch Brüder in die Stadt entsendet werden, um schnellstens Trost und Beruhigung zu spenden. Heute Morgen ist Pater Nikolaus, Propst von Bernau, nach seiner Predigt in der Marienkirche von einer aufgebrachten Horde getötet worden.«
Auf dem dunklen Gang sahen die zwei Männer einander an. Zur Erschütterung über den gewaltsamen Tod eines Menschen kam eine andere: Sie wussten beide, was die Nachricht bedeutete. Ein hoher Würdenträger der Kirche, ein erwählter Vertreter des Heiligen Stuhles, war in Berlin bei der Ausübung seiner Pflicht zu Tode gekommen. Damit würde Papst Johannes kein Halten mehr kennen, sondern über die Doppelstadt die härteste Strafe verhängen. Cölln-Berlin würde unter den Kirchenbann fallen. Der Schlag, der den gerade erst der Blüte zustrebenden Handel treffen würde, war dabei noch das kleinere von zwei gewaltigen Übeln. Weit härter waren die Folgen für das geistliche Leben der Stadt, das zum Erliegen kommen würde: Kein Kind dürfte mehr getauft, keine Ehe gesegnet, keine Glocke geläutet und kein Sterbender durch das Sakrament seiner Kirche getröstet werden.
In den vergangenen Monaten hatte Thomas gelernt, welches Gewicht vor allem dies Letzte für Menschen besaß. Sterben war ein Stoß in die Schwärze eines Abgrunds, und am Trost der letzten Ölung hielten die Todgeweihten sich fest wie an einer Kerze, die in kalten Händen lebendig zuckte.
»Wie ist der Propst gestorben?« Thomas hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet diese Frage stellte.
»Man ist nicht sicher.« Die Stimme des Novizenmeisters klang gepresst.
»Warum nicht?«
»Im Rat nimmt man vorerst an, er sei erschlagen worden. Einem Gerücht nach haben die Wachen einen Gehstock mit blutigem Knauf gefunden, doch ebenso möglich ist, dass auch ein Messer im Spiel war. Mit Sicherheit weiß es nur Gott, der seiner Seele gnädig sein möge. Das Volk, das aus der Messe kam, muss vor Zorn jeden Halt verloren haben. Die Leute haben mitten auf dem Neuen Markt einen Scheiterhaufen errichtet und Pater Nikolaus’ Leichnam darauf verbrannt.«
Thomas’ Herz verkrampfte sich. Das war kein Zorn mehr, der die Berliner vor der Kirche zu der grausamen Tat getrieben hatte, es war blanker, rasender Hass. Sie hatten den von Gott geschaffenen Leib eines Menschen geschändet, sie hatten ein gottgewolltes Leben ausgelöscht. Wie lebten sie damit weiter, was geschah mit ihnen, jetzt, wo sie aus dem Rausch der Bluttat erwacht sein mussten?
»Sie verlassen den Platz nicht«, gab Pater Antonius Antwort auf Fragen, die in ihm vermutlich ebenso brannten. »Die Stadtwache hat versucht, sie auseinanderzutreiben, es gab Verletzte, doch letztendlich hat der Rat entschieden, sie sich selbst zu überlassen. Niemand will, dass der Zorn noch einmal eskaliert und Berliner gegen Berliner kämpfen. Der Rat tagt die ganze Nacht. Stadtschultheiß von Asperstedt war es, der bei uns um Hilfe nachsuchen ließ.«
»Was können wir tun?«
Zum ersten Mal sah Thomas einen Bruder der Franziskaner mit den Schultern zucken. »Das wüsste ich auch gern. Ich bete zu Gott, dem Herrn, dass er es mir beizeiten sagt.«
Über die Nachttreppe stiegen sie hinüber ins Haupthaus, wo im Windfang ein weiterer Bruder wartete.
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