Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
eingeschüchtert. Zuweilen vergaß Thomas, dass er die meisten seiner Mitmenschen um gut einen halben Kopf überragte. »Nun ja, gut, bei dem Feuer, da haben ein paar andere mitgeholfen, aber die haben doch gar nicht mehr gewusst, was sie da machen. Die hatten bloß Angst und dachten, das geht noch mal glimpflich ab, wenn nur der Tote wegkommt.«
»Vor den Augen der Stadtwache?«
»Die ist ja erst später eingerückt. Die war im Getümmel stecken geblieben.«
»Und wir sagen Euch doch, es war die Hölle los, kein Männlein und kein Weiblein hat mehr klar gedacht.«
Ein kurzes Schweigen entstand, in der die Sprecher Atem schöpften. Diesen Augenblick nutzte ein kleiner Mann mit krummem Rücken, der sich aus der Gruppe löste und vor Thomas hintrat. Fackellicht fiel auf sein Gesicht, das erbärmlich zugerichtet war. Ein Auge war zugeschwollen, die Wange blau verfärbt, die Lippen blutverkrustet »Der war’s nicht alleine«, stammelte der Kleine schwer hörbar. »Einer alleine kann’s gar nicht gewesen sein, denn es haben doch alle drumherum gestanden und mitgemacht.«
»Du Idiot!«, fuhr das Rußgesicht ihn an. »Ich denke, du willst nicht, dass wir alle unter den Bann kommen, ich denke, du hast Angst, dass du deinen Vater nicht begraben darfst!«
»Ja, ja«, erwiderte der Kleine furchtsam. »Aber dennoch …«
Das Rußgesicht wollte ihn beiseitestoßen, doch Thomas versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. »Ihr gebt jetzt Ruhe und lasst den Mann sprechen.«
»Weshalb schwärzt er den Kerl denn erst an, wenn er hinterher alles widerruft?«, begehrte das Rußgesicht auf, trat aber in den Kreis der Übrigen zurück.
»Jetzt sprecht«, sagte Thomas. »Ist es wahr, was Euer Gefährte sagt? Habt Ihr den Mann, der verhaftet wurde, angeschwärzt?«
Der Mann faltete die Hände und presste sie zusammen, bis die Knöchel heraustraten. Dann nickte er.
»Und warum?«
»Weil’s so ist, wie er gesagt hat«, antwortete er. »Mein Vater liegt seit Langem auf dem Sterbebett. Seine größte Furcht ist es, ohne Segen der Kirche zu sterben.«
»Und um ihm das zu ersparen, habt Ihr der Wache einen Mann ausgeliefert, der womöglich unschuldig ist?«
»Ich wollte erst nicht«, quetschte der Kleine heraus. »Aber die Männer von der Wache …« Ohne aufzublicken, wies er auf sein Gesicht. Thomas begriff. Die Wachen hatten ihn geschlagen, damit er den anderen preisgab, weil sie von derselben Angst vor dem Bann besessen waren. Die ganze Stadt wünschte sich nichts sehnlicher als einen Sündenbock. »Könnt ihr ihm helfen – dem, den sie mitgenommen haben?«, wisperte der Mann.
Das bezweifelte Thomas. Vermutlich war einem Ertrinkenden im Weltmeer eher zu helfen als dem Verhafteten im Kerkerturm.
»Er hatte doch den Stock«, stotterte der Kleine weiter. »Und dann, als die Wachen mit dem Prügeln anfingen, da hab ich gedacht: Na, wenn er doch den Stock hatte, wer weiß, vielleicht ist er’s doch gewesen. Aber er war’s nicht. Er hat mit dem Stock in der Kirche gestanden, und er ist so ein Großsprecher, der immer herumprahlt, wen er alles zu Brezeln machen will. Aber bei alledem ist er harmlos und will nur dem Petter imponieren. Und den Stock, den hat er nachher doch gar nicht mehr gehabt.«
»Ihr kennt den Mann?«
Der Kleine nickte. »Aus der Schänke. Der Rippe. Diether Harzer heißt er, einer von den Streunern, die Petter Tietz, der Bäcker, aufliest. Dem Petter gefällt das nämlich, wenn solche armen Teufel zu ihm aufblicken wie zum lieben Gott.«
»Augenblick«, fuhr Thomas ihm ins Wort. »Dieser Mann heißt wie? «
»Diether Harzer. Erzählt herum, er sei weiß Gott was für ein großer Handelsherr, aber das glaubt kein Mensch. In Wahrheit füttert ihn seine Schwester durch, die hat dahinten am Krögel die kleine Brauerei.«
»Du hörst mir jetzt zu«, sagte Thomas mit rasendem Herzen und packte den Mann bei den Schultern. »Das, was du getan hast, war unendlich feige, und ob sich für den Mann, den du verraten hast, noch etwas tun lässt, weiß ich nicht. Sag mir deinen Namen, los.«
»Jecklin Schuhmacher.« Der Kleine wand sich unter seinem Griff. »Warum quält Ihr mich denn so? Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, wie es ist, geprügelt zu werden?«
»Allerdings«, erwiderte Thomas und sandte ihm ein böses Lächeln. »Pass auf, Jecklin Schuhmacher, du bist mir dafür verantwortlich, dass deine Kumpane hier ohne Radau vom Platz verschwinden. Hast du verstanden? Ich verlasse mich auf dich. Andernfalls kann ich
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