Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
größeren Gruppen verließen die Leute den Platz. Wer sah, dass Freunde und Nachbarn gingen, schloss sich ihnen an. Es dauerte lange, bis das Gelände sich tatsächlich leerte. Dort, wo Knäuel aus Körpern sich auflösten, kam die schwarze, noch immer qualmende Feuerstelle zum Vorschein, auf der an diesem Tag einer der ihren verbrannt war. Man konnte den Blick darauf gerichtet lassen und feststellen, dass der Mensch ein Ungeheuer ist. Oder man konnte ihn nach der Seite wenden, auf die Frauen, die ihre todmüden Kinder trugen, auf die jungen Männer, die Alte und Gebrechliche stützten, und feststellen, dass es nichts Wundervolleres, nichts Heiligeres gibt als den Menschen.
Nicht alle gingen. Vereinzelte Gruppen blieben auf dem Platz vor der Kirche zurück. Noch immer zu aufgewühlt, um sich schlafen zu legen, redeten sie mit wilden Gesten aufeinander ein. Lentz – Bruder Laurentius – war von einer solchen Gruppe umstellt, und Pater Antonius eilte ihm zu Hilfe. Eine weitere Gruppe, angeführt von dem Mann mit dem rußigen Gesicht, strebte auf Thomas zu.
»He, Mönch«, rief der Rußige, »du scheinst einer zu sein, mit dem man reden kann!«
»Zumindest manchmal«, erwiderte Thomas. »Solange die Läuse auf meiner Leber es nicht zu toll treiben.«
Der andere verzog den Mund zum Grinsen, wurde aber sofort wieder ernst. »Glaubst du, der Papst stellt uns wirklich unter den Bann?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Thomas ehrlich. »Lasst uns bis morgen warten, dann sehen wir klarer. Der Rat wird alles tun, um ein Interdikt zu verhindern, so viel steht fest.«
»Es ist für den Rat doch ein Leichtes, das zu schaffen!«, rief der Mann. »Der Tod von Propst Nikolaus muss gesühnt werden, daran gibt’s nichts zu rütteln. Aber warum soll denn eine ganze Stadt für ein Verbrechen bezahlen, das nur ein Mann begangen hat? Ist das gerecht?«
Thomas horchte auf. »Den Mord hat doch aber nicht nur ein Mann begangen.«
»Und ob er das hat!«, rief das Rußgesicht. »Nun ja, gut, der ein oder andere mag den Propst zuvor ein bisschen grob angefasst haben. Ein paar Maulschellen hat’s schon gegeben, auch einen Tritt in den Allerwertesten, nachdem er uns alle beschimpft und unsere Stadt verunglimpft hat. Aber den Knüppel genommen und ihn damit totgeschlagen, das hat nur einer.«
»Ein Messer war’s!«, rief ein anderer dazwischen.
»Nein, ein Knüppel, den hat die Stadtwache doch gefunden – und den Kerl, der den Kirchenmann erschlagen hat, den haben sie auch.«
»Der Mann ist verhaftet worden?«
»Gleich an Ort und Stelle«, bestätigte das Rußgesicht. »Das hat doch einer gesehen, dass der’s war, und jetzt soll der auch dafür bezahlen. Aufs Rad mit ihm! Dann ist es bezahlt, und uns lassen sie unseren Frieden, denn wir haben schließlich nichts getan.«
»Aufs Rad, aufs Rad!«, tönte es aus mehreren Kehlen.
Thomas lief ein Schauder über den Rücken, weil ihm jäh in den Ohren gellte, wie die Leute bei der Verhandlung gegen ihn dasselbe gefordert hatten. Die Gerichtslaube neben dem Rathaus war nach allen Seiten hin offen gewesen, er hatte gefesselt vor seinen Richtern gestanden, und draußen auf dem Platz hatten die Menschen, unter denen er gelebt hatte, im Chor gebrüllt: Aufs Rad mit dem Dreckschwein! Zermalmt den Frauenschänder! Aufs Rad, aufs Rad!
Ehe ein Verbrecher aufs Rad geflochten wurde, um qualvoll zu sterben und danach ohne Hoffnung auf Auferstehung zu verrotten, brach der Blutvogt ihm sämtliche Knochen, weil sein Leib sich sonst nicht um die Radspeichen krümmen ließ. Jeder Schritt der Prozedur wurde öffentlich vollzogen, damit rechtschaffene Bürger sich daran ergötzen konnten. Zum Leidwesen von Thomas’ Mitbürgern wurde diese Strafe jedoch nur über Mörder und Mordbrenner verhängt und war ihm somit erspart geblieben. Dem Mann, der heute verhaftet worden war, mochte sie hingegen drohen – umso mehr, wenn der Rat ein Exempel statuieren und den Heiligen Stuhl damit beschwichtigen wollte. Ein geräderter Einzeltäter gäbe den perfekten Sündenbock ab.
»Ihr seid ja verrückt!«, schrie Thomas das Rußgesicht und seine Spießgesellen an. »Ein einzelner Mann hat also Propst Nikolaus totgeschlagen. Und was ist dann geschehen? Hat ein einzelner Mann auch diesen riesigen Scheiterhaufen errichtet, hat er das Feuer entzündet und den Toten hineingeworfen, auf dass das Ewige Leben ihm verwehrt bleibt?«
»Das war dem doch eh verwehrt, dem Kriegstreiber«, murmelte das Rußgesicht
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