Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
Großvater rührte seinen Napf nicht an.
»Ich habe mich vor der Gilde zum Narren gemacht«, erklärte Bechtolt. »Mit Menschen- und Engelszungen habe ich geredet: Ganz gewiss liege heute der Beitrag von Euch vor, und ganz gewiss seien all diese Widrigkeiten nur Eurem Mangel an Erfahrung geschuldet. Wie stehe ich jetzt vor den anderen Oldermännern da? Wie ein Tölpel, der sich durch hohles Wortgeklingel hat täuschen lassen.«
Weil sie das tatenlose Schweigen nicht ertrug, stand Magda auf. »Es sind doch nur zehn Pfennige, die fehlen«, machte sie sich Luft. »Um nicht als Tölpel dazustehen, hättet Ihr eine solch kleine Summe leicht aus Eurem eigenen Beutel dazuschlagen können. Habt Ihr von uns nicht das Pferd bekommen? Acht Mark hat mein Bruder dafür bezahlt, und hat die Auslösesumme, die Ihr ihm vorgestreckt habt, nicht viel weniger betragen?«
»Ha!«, rief der Dicke und streckte seine Wampe in den Raum. »So macht man die Rechnung ohne den Wirt, meine Beste – der Klepper, der nur noch für den Abdecker gut ist, bringt mir im Leben keine acht Mark mehr, sondern höchstens zwei. Bin ich vielleicht ein Bettelmönch, betreibe ich eine Armenpflege? Ich habe für Euch getan, was ich konnte, habe Euren Haufen sogar an meinem Tisch beköstigt, aber wenn ich jetzt obendrein für das Geld aufkommen soll, das der feine Herr Bruder ins Badehaus trägt, dann hat die Freundschaft für mich ein Ende.«
Ehe er ging, wandte er sich noch einmal an Utz: »Es ist nicht so, dass Ihr mich nicht dauert, mein Lieber. Ihr wärt nicht der Erste, der über einen ehrlosen Verwandten gestolpert ist, und die wenigsten rappeln sich nach einem solchen Sturz wieder auf.«
»Unser Bruder Diether ist nicht ehrlos!«, rief Magda. »Und er ist auch kein Dieb, der seine eigene Familie bestiehlt.« Obgleich sie sich dessen alles andere als sicher war, verachtete sie einen Herzschlag lang die Übrigen für ihr Schweigen.
»Nichts für ungut«, sagte Bechtolt zu Utz, ohne sie zu beachten. »Sollte sich das Geld vor dem Tag des Herrn noch finden, fühlt Euch frei, mich aufzusuchen.«
Natürlich fand das Geld sich nicht, und natürlich stritt Diether ab, etwas damit zu tun zu haben. »Dass ich für euch kein Mensch mehr bin, weiß ich schon lange«, empörte er sich. »Aber wollt ihr es jetzt wahrhaftig mir anhängen, wenn der Jude sich verzählt?«
»Und willst du es dem Juden anhängen?«, fragte Magda. »Soll Utz den Juden vors Gericht bringen und mit Zangen zwicken lassen, bis er gesteht?«
Daraufhin schwieg Diether, und der Rest der Familie schwieg auch. Es ließ sich ja nichts dazu sagen. Wie man es drehte und wendete, kam immer wieder dasselbe heraus: Diether musste die Familie bestohlen haben. Dass er ihnen derart entglitten war, erfüllte Magda mit bleischwerer Traurigkeit. Keine Strafe, die sie ihm hätten erteilen können, hätte daran etwas geändert. Sie hätten ihn verstoßen müssen, aus dem Haus weisen und seinem Schicksal überlassen, doch sie waren die Harzers, und er war einer von ihnen. Sie mussten ihn bei sich behalten, den letzten Laib Brot im Kasten mit ihm teilen und dafür sorgen, dass er in der Nacht nicht fror.
Der Sonntag ging vorüber, und damit war besiegelt, dass Utz nicht in die Gilde der Kaufleute aufgenommen würde. Sie saßen auf einem Kontor voll Getreide, das sie nicht offen verkaufen durften und nicht einmal mahlen lassen konnten, weil ihnen selbst dazu die Mittel fehlten. Magda schlug vor, den Betrag, den Utz für den Gildenbeitritt eingezahlt hatte, zurückzuverlangen. Das Geld gehörte ihnen – was sprach dagegen, es von Bechtolt einzufordern, um damit ihre größte Not zu lindern? »Und hat sein Bote nicht auch das Geld für das Wachs mitgenommen? Das wird ja nun nicht gebraucht – wir aber müssen es dem Juden zurückzahlen.«
Utz wand sich wie ein Aal, und Magdas Geduld hing nur noch an einem seidenen Faden, der beim nächsten Wort gerissen wäre. Sie ließ sie alle stehen und ging selbst den Weg zu Bechtolts Haus, den sie seinerzeit mit dem Franziskaner gegangen war. Flüchtig ertappte sie sich bei dem Wunsch, er wäre wiederum an ihrer Seite. In Wahrheit war es natürlich nicht der hochmütige Gottesmann, nach dem sie sich sehnte – ihr fehlte einfach ein Mensch, der ihr beistand, damit sie nicht alles allein anpacken musste, übernächtigt und kopflos, wie sie war.
Umso lauter und zorniger klopfte sie an Bechtolts Haustür, entschlossen, sich wiederzuholen, was ihnen gehörte. Dieser
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