Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
sagte Lentz und schob ihn so behutsam wie bestimmt beiseite. »Ich liebe euch innig. Ich werde euch immer lieben und euer Bruder sein, auch wenn ich nicht länger mit euch leben kann.«
Die Worte aus ihrem Traum! War es das, was er ihr angekündigt hatte, keinen Tod diesmal und doch einen unersetzlichen Verlust? Begreifen überwältigte sie, und Schmerz ergriff sie mit einer Heftigkeit, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Lentz war ihr großer Bruder, mehr Vater, als ihr Vater es je gewesen war. Sie konnte ihn nicht hergeben, nicht nach Barbara, Alheyt und Endres auch noch ihn! Von Lentz hatte sie sich Hilfe erhofft, wenn erst sein Tal der Trauer durchschritten war. Ihm traute sie zu, auf Diether heilenden Einfluss auszuüben und ihn auf den geraden Weg zurückzuführen. Ohne Lentz, so kam es ihr vor, war ihr Alleinsein besiegelt. Sie würde niemanden haben, der ihr zur Seite stand, niemanden, bei dem sie sich auch nur für Augenblicke ausruhen konnte.
Das Geschrei, das Diether und der Großvater vollführten, rauschte an ihr vorüber. Die beiden gaben erst Ruhe, als sie sich leer geschrien hatten, und dann riss Diether seine Cotta vom Haken und stürmte aus der Tür. »Gute Nacht«, sagte Lentz mit leisem Bedauern. »Gott behüte euch.«
»Lentz«, kam es von Utz, der als Einziger noch bei Magda am Tisch saß. »Es war ein Mönch, der Endres getötet hat, und ein Mönch, der nie dafür belangt worden ist. Willst du wahrhaftig zu solchen Wölfen unter Menschen gehören?«
»Ich will zu Gott gehören«, sagte Lentz. »So, wie wir alle es von Anbeginn an tun.« Damit verließ er sie und ging die Stiege hinauf.
18
Erst als Magda sich niedergelegt hatte, erfasste sie in vollem Umfang, was Lentz’ Entschluss bedeutete: Von morgen an würde er nicht mehr hier sein, nie wieder schwerfällig von seinem Stuhl aufstehen, nie wieder still in sich hineinlachen, nie wieder seine kräftigen Arme um sie legen und sie in die Höhe heben.
Nein, das würde sie nicht zulassen! Alles hatte sie hingenommen, ohne sich zu beklagen. Sie hatte geschluckt und hundertmal neu angefangen, aber dieses Mal würde sie aufbegehren.
Du kannst ihn nicht haben, flüsterte sie ins Dunkel und begriff mit Verzögerung, dass sie zu Gott sprach. Du hast mir Endres genommen, und ich habe weitergelebt. Ich bin zur Kirche gegangen und habe gespart und geknausert, damit wir den Zehnt zahlen konnten. Ich habe wenig gesündigt oder zumindest nicht viel mehr als andere Leute. Für das bisschen Lügen, Fluchen und Lästern, das ich alles dem Priester gebeichtet habe, darfst du mir nicht meinen Bruder nehmen.
Sie nahm sich vor, Lentz morgen, wenn er sich aufmachen wollte, in den Weg zu treten. Einerlei, wann er aufbrach, sie würde auf ihn warten. Es war fast Mai, der Jahrmarkt zu Walpurgis stand bevor, und sie hatte Arbeit ohne Ende, weshalb sie ohnehin aufstand, ehe ein Hahn krähte. Um rechtzeitig wach zu werden, hatte sie nie einen Hahnenschrei oder ein Morgenläuten gebraucht. Sie nahm sich einfach vor, in der Frühe zeitig zu erwachen, und damit war es getan.
Nicht so an diesem Morgen. Sie hatte wiederum stundenlang wachgelegen, und als sie endlich in unruhigen Schlaf fiel, forderte ihr ausgelaugter Körper sein Recht. Magda erwachte erst, als gleißendes Morgenlicht durch die Fensterluke sickerte und den Staub im Raum zum Schillern brachte. Der Tag draußen musste hell und schön sein, wie sie ihn den Winter über ersehnt hatten.
In Windeseile war sie in ihren Kleidern und stürmte die Treppe hinunter. Utz saß über einer Schüssel kalten Krauts. Der Großvater stand mit dem Rücken zu ihm und verlas ein Scheffel Gerste zum Mälzen.
»Wo ist Lentz?«
Mit dem Kopf wies der Großvater zur Tür.
»Gegangen«, sagte Utz. »Vor dem Morgengrauen. Gestorben für uns.«
Magda würdigte keinen von ihnen eines Blickes und rannte aus dem Haus.
Sie wusste nicht einmal, wo das Kloster sich befand. Chorin, das mächtige Haus der Zisterzienser, lag hinter Wäldern verborgen, von der Welt abgeschieden, doch Franziskaner verkrochen sich nicht hinter Klostermauern, sondern zogen durch Städte und bettelten um Almosen. Wer hatte ihr das erzählt? Der Postulant mit den ungewöhnlichen Augen, den sie schon fast vergessen hatte. Unwillkürlich schlug sie die Richtung zum Olden Markt ein. Vielleicht würde wieder einer der grau gewandeten Bettler dort unterwegs sein, den sie nach dem Weg fragen konnte.
Auf dem Markt war kein Mann in grauer Kutte zu sehen.
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