Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
zögernd den Blick hob, raubte ihm der Ausdruck in seinem Gesicht jeden Keim von Hoffnung. „Nicht einmal du könntest so dumm sein, mir eine solche Geschichte aufzutischen, wenn sie nicht zumindest teilweise der Wahrheit entspräche. Hast du gedacht, der Besitz dieser Gabe würde das Märchen von der Vision unserer Niederlage glaubhaft machen? Aber dabei hast du dir nur selbst eine Falle gestellt und mir verraten, wer du bist. Was du bist!“
„Nein! Nein! So ist es nicht. Du musst mir glauben“, beschwor sie ihn und merkte zum ersten Mal, dass sie tatsächlich Angst vor ihm hatte. „Auch du würdest auf dem Schlachtfeld sterben!“
„Soll das eine Drohung sein, Hexe?“
Da war es. Das Wort, das für Reeva gleichbedeutend war mit einem Schlag ins Gesicht. Als wäre es tatsächlich ein solcher gewesen, taumelte sie entsetzt zurück – und fühlte, wie der Prinz sie erneut packte, nahe an sich heranzog. Eine grobe Hand griff in ihr Haar und zerrte ihren Kopf nach hinten; sie spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste, doch sie gab keinen Laut von sich. Das Aufblitzen von Metall, und dann ein scharfes, ein heftiges Reißen, bei dem ihre Kopfhaut schmerzte.
Auf den kalten grauen Steinboden fielen sie, wie Schnee oder der Flaum eines Vogels: schimmernde Locken in der Farbe von dunklem Holz.
„Brennen solltest du, Ungeheuer“, sagte der Prinz mit vor Wut bebender Stimme. „Brennen auf dem Scheiterhaufen! Doch du hast mir einmal das Leben gerettet; das habe ich nicht vergessen. Darum gebe ich dir die Möglichkeit zu fliehen: Lauf, Hexe, aber lauf schnell – denn viel Zeit lasse ich dir nicht. Wenn dich die Männer meines Vaters finden, bist du des Todes!“
Er brüllte einen Befehl, aber Reeva konnte ihn nicht mehr verstehen. Der Wächter stürmte herein und ergriff sie; während er sie hinausschleifte, drehte sie noch einmal den Kopf und schaute zum Prinzen zurück.
Er spuckte vor ihr aus und kehrte ihr dann den Rücken zu.
***
Beim Rumpeln des Wagens schmerzte Reevas ganzer Körper. Sie spürte jeden einzelnen Knochen, den sie sich beim Aufprall auf die Bretter angeschlagen hatte, als sie in das Fuhrwerk geworfen worden war. Noch dazu war sie nicht in der Lage, ihre zusammengekrümmte Haltung zu verändern, denn ihre Arme und Beine waren mit groben Stricken gefesselt. Ihre Lippen fühlten sich aufgesprungen an, und bald konnte sie an nichts anderes mehr denken als an ihren quälenden Durst.
Sie wusste nicht, wie lange diese Tortur dauerte. Irgendwann stoppte der Wagen mit einem plötzlichen Ruck, bei dem sie vor Schmerz die Zähne zusammenbiss – dann war es einen Moment lang sehr still. Endlich hörte das Mädchen Schritte, die sich um das Gefährt herumbewegten und vor der Tür innehielten. Reeva schloss die Augen.
Sie hörte ein fassungsloses Keuchen, ehe sie aus ihrem stickigen Gefängnis gehoben und ins Gras gelegt wurde. Doch etwas stimmt nicht – die Berührungen waren vorsichtig, fast sanft.
„Um Himmels willen, Reeva! Ich wusste ja nicht … Kannst du mich hören?“
Eine vertraute Stimme, die sie in diesem Augenblick gewiss nicht erwartet hätte. Sie riss die Augen auf und blickte in das vor Entsetzten bleiche Gesicht Jacobs.
„Ich bekam den Befehl, ein Pferd und einen Wagen bereitzumachen, und dann hieß es auf einmal, ich solle die Ladung aus der Stadt bringen und zurücklassen … Ich konnte doch nicht ahnen, dass du damit gemeint warst! Was ist nur geschehen? – Mein Gott, Reeva“, unterbrach er seinen aufgeregten Wortschwall und sah sie bestürzt an. Hastig griff er nach einem Wasserschlauch und setzte ihn an ihre Lippen. Sie trank gierig von der kühlen Flüssigkeit, bis sie sich verschluckte und von Husten geschüttelt wurde. Ihr Kopf sank nach hinten, und Jacob hielt sie fest. Vorsichtig berührte er mit einer Hand Reevas grausam zugerichtetes Haar.
„Was ist nur geschehen“, wiederholte er leise.
Und endlich begann das Mädchen zu weinen.
Irgendwie schien es Jacob zu gelingen, aus Reevas Schluchzen die vollständige Geschichte zu erraten. Als sie geendet hatte, waren seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Stumm löste er die Fesseln um die Fuß- und Handgelenke des Mädchens und untersuchte die Schnitte, die diese hinterlassen hatten.
Reeva wusste zuerst nicht, wie sie sein Schweigen deuten sollte. Ängstlich fragte sie: „Jacob, was bin ich nun für dich? Hältst du mich auch für eine Hexe, ein Ungeheuer?“
„Was
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