Das Mädchen-Buch
unauffällig mit ein. Immer wieder. Die Art, wie wir mit unseren Kindern über den Körper sprechen, ob wir beispielsweise alle Körperteile, inklusive der Geschlechtsorgane, beim Waschen benennen oder ob wir bei den Schamlippen und der Scheide schweigen, bekommt ein Kind mit. Wenn wir | 57 | schweigen oder uns unsicher zeigen, lernt es: Dieser Teil des Körpers ist »irgendwie anders«, hat keinen Namen, darüber spricht man nicht, irgendetwas stimmt da nicht. Umgekehrt wird aber auch der Respekt der Erwachsenen vor den intimen Körperteilen wahrgenommen und gelernt. Eine Mutter zum Beispiel, die sich damit brüstet, ihrer Tochter am Kitzler zu kitzeln, ist schlicht übergriffig.
»Ich würde meine Tochter zärtlich knuddeln und auf den Bauch blasen, aber nicht an der Muschi stimulieren.«
SABINE 42 JAHRE, ZWEI KINDER
Auch die Frage, wie wir mit Nacktheit in der Familie umgehen, ist eine Nachricht an die Kleinen. Kann man sich ungeniert nackt zeigen oder ist das ein Tabu? Unser Umgang mit Sexualität, Körper und Nacktheit hat viel mit unserer Erziehung und unserer Haltung zu tun. Um uns das bewusst zu machen und so zu wissen, was wir weitergeben, ist es gut, wenn wir uns ein paar Fragen bezüglich unserer eigenen Geschichte stellen: Wie bin ich erzogen worden im Hinblick auf Körper und Sexualität? Wie verhalten wir uns zu Hause? Wie ist unser Umgang mit Nacktheit? Kann über Sexualität gesprochen werden? Haben alle Körperteile einen Namen? Und was wollen wir an unsere Kinder weitergeben? Hilfreich ist es auch, sich mit der Partnerin, dem Partner oder Freunden darüber auszutauschen.
Erst wenn wir uns klar darüber sind, können wir uns bewusst für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen und Umgangsformen entscheiden. | 58 |
Typisch weiblich – typisch männlich
»Ich glaube, ganz am Anfang ist es einfach nur ein Baby, egal, ob es Junge oder Mädchen ist. So mit 1½ oder knapp eins fängt das an, dass man sie als Mädchen wahrnimmt.«
SELDA, 42 JAHRE, DREI JUNGEN, EIN MÄDCHEN
Im Bewusstsein vieler Eltern ist ein kleines Kind erst mal nur ein Baby. Forscher sehen das anders. Sie stellen fest, dass die unterschiedliche Behandlung von Jungen und Mädchen sofort losgeht, und zwar zunächst unbewusst:
Allein das Wissen, um welches Geschlecht es sich handelt, bewirkt ganz unterschiedliche Empfindungen bei allen Betrachterinnen und Betrachtern und damit auch unterschiedliche Äußerungen und Handlungen: Mädchen sehen häufiger »süß« aus, so meint man, Jungs sind eher »kräftige Kerle«.
Von Geburt an werden Jungen und Mädchen unterschiedlich erzogen – sie werden unterschiedlich lange gestillt, es wird unterschiedlich lange mit ihnen geredet, sie werden unterschiedlich lange auf dem Arm gehalten, sie bekommen verschiedenartiges Spielzeug. Es wird unterschiedlich mit ihnen geschmust.
Es ist verblüffend, wie tief und unbewusst die Einstellung in uns verankert ist, dass man Jungen und Mädchen unterschiedlich behandeln muss. Forscher haben beobachtet, dass Mütter beim Spielen mit ihren Söhnen im ersten und zweiten Lebensjahr den Ball weiter wegrollen als bei ihren Töchtern. 18 Woran liegt das? Gehen Mütter davon aus, dass ihre Söhne später mehr Unternehmungsgeist benötigen und wollen sie die Töchter hier schon enger an sich binden? Oder liegt es daran, dass Jungs von | 59 | ihrer biologischen Disposition eher dazu neigen, weiter davonzukrabbeln als die Mädchen? Kleine Mädchen wiederum sollen früher sauber sein als kleine Jungen. Sie werden früher strenger und rigider zu Reinlichkeit und Ordnung erzogen. Die Konsequenz: Kleine Mädchen erleben ihre Mütter als kontrollierender und eindringender als Jungen. Väter beschreiben Jungs darüber hinaus als kräftig und Mädchen gleichen Gewichts als zart. Sie kümmern sich mehr um ihre Söhne als um ihre Töchter, das heißt, sie sprechen mehr mit ihnen, schauen sie häufiger an und verbringen – wenn auch insgesamt wenig – mehr Zeit mit den »Thronfolgern« als mit den »Thronfolgerinnen«. 19
Daran – und die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern – wird deutlich, dass sich spätestens ab der Geburt die geschlechtsspezifische Entwicklung vollzieht. Einmal durch die elterliche Geschlechtszuweisung und dann durch die eigene sinnliche Erfahrung der Genitalien. 20
Es hat schon viele Bemühungen gegeben und es gibt sie immer noch, Kinder geschlechtsneutral oder gleich zu erziehen. Sie sollen in ihrer Sprache, ihrer
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