Das Mädchen-Buch
die Puppen aus, mit denen sie spielen? Haben sie den Körper von kleinen Kindern oder den von Topmodels? Haben sie kindliche Figuren und Kleider oder sind sie sexy modelliert und gekleidet?
Das nehmen sie wahr, ganz direkt. Es prägt unwillkürlich ihre Vorstellung davon, wie sie selber sein sollen. Sie lernen: Wie kann ich meinen Eltern gefallen? Denn das wollen sie unbedingt in diesem Alter. Schließlich sind sie abhängig von ihnen und ihrer Unterstützung. Sie verinnerlichen, was ihre Eltern an ihnen gut finden. Welche Kleidung möchten sie, dass ich sie trage? Sind es aufreizende, sexy Bikinis mit drei Jahren, die auch Teenager oder Erwachsene tragen, sind es Lackstiefel oder normale Kinderschuhe?
Für welches Aussehen und für welches Verhalten werde ich bestärkt? Wie wollen meine Eltern, dass ich herumlaufe? Und: Warum wollen sie das? Um meinetwillen, weil sie denken, dass es mir dann gut geht, oder um ihretwillen, weil es ihnen schmeichelt, wenn sie so ein herausgeputztes »Püppchen« vorzeigen können.
In Amerika gibt es Laufstege für Dreijährige und Schönheitswettbewerbe für Kleinkinder. Die Auftritte der kleinen als »Vamps« verkleideten Mädchen werden im Fernsehen übertragen. In der amerikanischen Fernsehsendung »Toddlers und Tiaras« (was so viel heißt wie: Kleinkinder und Kronen) posieren kleine Mädchen in Prostituierten-Outfits, mit angeklebten Brüsten und mit Fake-Zigaretten.
Mit Schrecken habe ich ein Foto von zwei kleinen Mädchen in der »Tageszeitung« gesehen. Bildunterschrift: »Die zweijährige Sophia (links) und eine Konkurrentin bei einem Schönheitswettbewerb für Kinder in Georgia/USA im April 2012«. Darauf waren zwei kleine Mädchen in Rüschen-Satin-Kleidern, | 82 | mit weißen Schuhen mit Absätzen und mit Haaren zu sehen, die mit Haarteilen zu damenhaften Frisuren hochtoupiert waren. Wie zwei junge Eiskunstläuferinnen sahen sie aus, die eine rot, die andere hellblau. Natürlich trugen sie noch Windeln. Dass diese Kleinstkinder zu Puppen »aufgehübscht« anstatt zum Spielen angeregt werden, empfinde ich mehr als nur traurig. Abgesehen davon, dass sie ihrer Kindheit beraubt werden, sich von klein an über ihr Äußeres und die Bestätigung darüber definieren, sind sie gefährdet, weil sie natürlich nicht geschützt sind gegen Pädophile, die genau darauf »abfahren«. Gegen das, was die Medien präsentieren, was die Spielzeugindustrie und die Modeindustrie vorgeben, müssen wir unsere Kinder schützen, indem wir ihnen keine solche Kleidung kaufen, sie nicht auf den Laufsteg schicken und uns Gedanken darüber machen, für wen sie sich jetzt schön machen sollen. Denn das alles hat eine Wirkung auf das Rollengefühl der Mädchen.
Freie Mädchen
»Vier- bis Fünfjährige haben einen großen Bedarf an Geschlechtssicherheit, und was am meisten Geschlechtssicherheit liefert, sind Klischees: bei Mädchen z. B. der Wunsch, Prinzessinnen zu sein oder Schleifen im Haar zu tragen. In der Pubertät wirken Mädchen oft wie Karikaturen ihrer weiblichen Idole. Jungs haben dagegen lässig eine ›Fluppe‹ im Mundwinkel. Man muss sich finden. Und das tut man zuerst in Klischees. Die individuelle Ausprägung braucht später dann mehr Zeit. Da sollte man viel Verständnis haben als Eltern und sich nicht drüber lustig machen, wenn die Mädels und Jungs so rumlaufen.« 33 | 83 |
RAINER NEUTZLING, SOZIOLOGE UND AUTOR
Die Frage, ob man Kinder geschlechtsneutral erziehen kann und sie sich dann hinterher selbst für ein Geschlecht entscheiden können, haben wir schon angesprochen (siehe Seite 77 f.). Unter Wissenschaftlerinnen wird sie bis heute – oft kontrovers – diskutiert.
Geschichten von Kindern, deren Mütter versuchen, sie »geschlechtsneutral« zu erziehen, wirken auf mich oft traurig. Malin Björn, zum Beispiel, die ihr Kind »Charlie« großzieht, ohne jemandem zu erzählen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, denn niemand soll es wissen, um entsprechend geschlechtsspezifisch zu handeln. Wo soll Charlie sich zugehörig fühlen? Wogegen oder wofür soll sie (oder er) sich entscheiden? Es wirkt wie ein Eiertanz, den die Mutter vollführt, offenbar um eigene alte Wunden zu heilen. Es wirkt, als hadere sie mit ihrem Geschlecht und der Rolle, die sie damit verbindet. Warum überträgt sie das auf ihr Kind? 34 Dieses Kind lernt: »Ich muss mein Geschlecht verstecken. Darüber darf nicht offen gesprochen werden. Es ist ein Geheimnis. Vielleicht ist irgendetwas daran nicht o.
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