Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Verbandskasten und ein handliches »E rste-Hilfe-Set«, das beinahe in jede Handtasche passt. Wenn die Selbstmedikation nicht hilft, wenden wir uns an den Hausarzt oder gehen ins nächste Krankenhaus. Wir vertrauen auf die westliche Hochleistungsmedizin, die es möglich macht, Menschenleben zu retten, die in anderen Ländern längst verloren wären.
Tief im brasilianischen Urwald gab es solche Annehmlichkeiten natürlich nicht. Man war auf fachkundige Stammesgenossen, begabte Heiler oder mächtige Zauberer angewiesen. Das Schicksal entschied, ob man nach deren Behandlung wieder gesund oder noch kränker wurde. In schlimmen Fällen, etwa bei einer verschleppten Malaria oder einem schweren Jagdunfall, hing das Überleben davon ab, ob man noch rechtzeitig die kleine Funkstation in unserem Nachbardorf Aldeia Bona erreichte. Lebensbedrohlich konnte es auch bei Schlangenbissen werden, gegen die sich kein passendes Antiserum finden ließ, weil der Bewusstlose die Schlange nicht mehr beschreiben konnte. Bei Schädelverletzungen oder Geburtskomplikationen lohnte sich ein Notruf erst gar nicht, weil ohnehin jede Hilfe zu spät gekommen wäre. Und selbst ein vereiterter Backenzahn, ein Skorpionstich oder eine Blutvergiftung konnte heftige Komplikationen nach sich ziehen, die schlimmstenfalls zum Tod führen konnten.
Traditionelle und moderne Heilmittel nebeneinander
Meine Eltern bemühten sich nach Kräften, die medizinische Versorgung in unserem Dorf zumindest provisorisch sicherzustellen. Vor allem meine Mutter kümmerte sich, wenn jemand krank war und Hilfe brauchte. Die nötigen Grundkenntnisse hatte sie sich an einem Tropeninstitut in Deutschland angeeignet, während mein Vater aufgrund seiner langjährigen Tropenaufenthalte wusste, was im Urwald gebraucht wurde. Manchmal kamen sogar Indianer aus weit entfernten Dörfern zu unserer Hütte, mit einem kranken Kind auf dem Arm, mit hohem Fieber oder einer Verletzung. Obwohl meine Eltern einen ordentlichen Vorrat an gängigen Schmerzmitteln und Verbandsmaterial in einer der Aluminiumkisten aufbewahrten, waren ihre Bemühungen oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Dies bestärkte meine Eltern in der Überzeugung, dass die Zustände vor Ort verbessert werden mussten. Sie gingen verschiedene Optionen durch: Für eine eigene Krankenstation war Mashipurimo zu klein. Eine solche Einrichtung würde das Leben im Dorf stören, weil die Kranken nie alleine kamen, sondern ihre gesamte Großfamilie mitbrachten. Und die blieb dann gleich tage-, wenn nicht gar wochenlang. Außerdem war Mashipurimo wegen seiner Lage an der tosenden Stromschnelle für die Dörfer flussabwärts nur mühsam zu erreichen, vor allem während der Trockenzeit. Für die flussaufwärts gelegenen Dörfer, für die die Funkstation in Aldeia Bona zu weit entfernt war, schien unser Standort hingegen ideal.
Schließlich hatte meine Mutter die zündende Idee: eine Urwaldapotheke! Mein Vater war anfangs skeptisch, ob die Apotheke ihren eigentlichen Zweck erfüllen würde. Medikamente waren in den vergangenen Jahren bei den Aparai zu einer beliebten Tauschware verkommen. Es kam vor, dass jemand nach Kopfschmerztabletten verlangte, die er gar nicht benötigte, sondern nur gegen etwas anderes eintauschen wollte. Außerdem, so befürchtete er, könnte traditionelles Wissen über Heilpflanzen verloren gehen, wenn chemische Arzneimittel jederzeit verfügbar waren. Schließlich gab es durchaus auch Krankheiten, gegen die ein Kraut gewachsen war. Und wie verhielt es sich mit Wunden, die zur Gefahr wurden, bloß weil sie nicht desinfiziert wurden? Und war es nicht besser, alle Medikamente an einem Ort zu lagern, anstatt mit einem Koffer voller Arzneien von Hütte zu Hütte, von Dorf zu Dorf zu ziehen? Eine Urwaldapotheke wäre nicht nur für viele Kranke eine zentrale Anlaufstelle; sie könnte auch ein Ort werden, um uralte Kenntnisse über Heilkräuter und Arzneipflanzen zusammenzutragen. Eines Tages, so der Plan, könnte die Apotheke in Selbstverwaltung an die Aparai übergehen.
Am Ende überwogen auch für meinen Vater die Vorteile einer solchen Einrichtung. Meine Mutter strahlte, als er einlenkte, und setzte zur Feier des Tages gleich eine Kanne tiefschwarzen Bohnenkaffees auf.
Während der kommenden Wochen versanken meine Eltern in ihren Planungen. Tagelang fertigten die beiden Skizzen von der Apotheke an, besprachen die Lage und berechneten die Entfernung zum Fluss und zu den umliegenden Dörfern. Manchmal
Weitere Kostenlose Bücher