Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
wie sie mit ihren Händen einen Trichter formte, durch den sie ihre gellende Warnung erneut ausstieß.
Mit den rutschigen Flipflops an den Füßen stürmte ich Richtung Dorf. Immer wieder blieb ich im dichten Gebüsch hängen. Da! Links von mir ein lautes Rascheln. Dann rechts. Und über mir. Ich saß in der Falle. Panik ergriff mich, ein Taumeln, ich hatte das Gefühl, als könne ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Die Ituakeré waren schneller als ich, stärker und geschickter und vor allem viel größer. Ich hatte nicht die geringste Chance gegen sie.
Ich holte tief Luft und brüllte, was meine kleinen Lungen hergaben. Ein hoher, endlos langer Schrei drang aus meinem Mund. »A aaahhhiiiihhhhhaaaaaaaaaaaiiiiiihhhhhh!« Beide Hände zu Fäusten geballt, so lange und so laut schreiend, bis mir fast schwindlig wurde. Bis der Druck in meinem Kopf so stark wurde wie bei einem Luftballon kurz vor dem Platzen.
Erst nach einer Weile setzte mein Verstand wieder ein, der mir sagte, dass es auch ganz praktisch wäre, noch ein bisschen weiterzurennen. Vielleicht hatte ich ja Glück und hatte den Ituakeré, die im Gestrüpp lauerten, mit meinem Auftritt einen Schrecken eingejagt. Ein ungewöhnlich blasses Aparai-Mädchen mit hellen Haaren, das sich die Seele aus dem Leib schrie, während es mit merkwürdigen Dingern an den Füßen im Dickicht herumwatschelte.
Ich riss mich zusammen und stolperte hastig weiter. Äste schlugen mir ins Gesicht, Schnittgräser, Stachelranken und Klettengewächse schürften mir die Beine auf, aber ich kam voran, wenn auch langsamer als erhofft. Kurz bevor ich das Dorf erreichte, sah ich aus den Augenwinkeln ein paar menschengroße Schatten davonhuschen. Vollkommen lautlos. Und sehr schnell.
Zurück im Dorf, holte ich als Erste die alte Peputo ein. Als sie mich bemerkte, blieb sie sofort stehen und nahm mich in ihre Arme. Allerdings nicht ohne Vorwurf. »H ast du geträumt? Oder hattest du Maulu, Watte in den Ohren?« Wenn Gefahr drohte, dann musste sich jeder, so schnell er konnte, in Sicherheit bringen und durfte nicht auf andere warten. Es wäre also ganz allein meine Schuld gewesen, wenn ich den Ituakeré in die Hände gefallen wäre.
Der Schreck saß tief. Koi, die ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ohne mich das Weite gesucht hatte, behandelte mich in den kommenden Tagen wie ein rohes Ei. Ausnahmsweise zankten wir uns kein bisschen. Und mein Vater, der von alledem erst später am Tag erfahren hatte, schnappte sich seine Flinte und lief damit mehrmals in Richtung Bucht. Doch außer ein paar abgebrochenen Zweigen fand er nichts.
Waren die Ituakeré überhaupt da gewesen? Oder hatten wir uns alles nur eingebildet? Ich jedenfalls war überzeugt davon, dass ich mit meiner Schreierei alle in die Flucht geschlagen hatte, die an jenem Tag in der Bucht gelauert hatten …
Dass aus den Indianerdörfern im Amazonasgebiet immer wieder Kinder geraubt wurden, war ein offenes Geheimnis. Der Fortbestand jeder kleinen indianischen Gemeinschaft hing entscheidend davon ab, ob genug Kinder geboren wurden. Wenn zu viele Menschen starben oder die Frauen wegen Krankheiten, Schwäche oder Vertreibung aus ihrer gewohnten Umgebung keine Kinder mehr zur Welt brachten, musste man sich anders behelfen. Notfalls mit Kindsraub, der für alle Beteiligten eine furchtbare Tragödie war.
In Mashipurimo erzählte man sich von einem Jungen, der in einem Tirio-Dorf aufgewachsen war und erst als Erwachsener davon erfahren hatte, dass er seinen Aparai-Eltern als Baby geraubt worden war. Aus Rache erschlug er seinen Ziehvater, der sich nicht einmal dagegen gewehrt hatte. Er liebte seinen »S ohn« und wusste um das Unrecht, das er ihm angetan hatte. In seinen Augen hatte der entführte Junge sogar das Recht, ihn zu strafen. Und sei es mit dem Tod.
Von solchen und ähnlichen Fällen hatten wir immer wieder gehört. Besonders die Ituakeré standen im Verdacht, Kinder zu rauben. Zwar hatte kaum jemand von uns einen leibhaftigen Waldmenschen je zu Gesicht bekommen. Doch auf ihre Spuren und Zeichen stieß man immer wieder, sofern man sich nur tief genug in den Urwald hineinwagte. Die Ituakeré markierten ihr Gebiet, in das niemand eindringen sollte. Wie andere Amazonasvölker auch hatten sie vermutlich in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht. Ganze Urvölker waren den Krankheiten erlegen, die illegale Holzfäller, Gummizapfer, Goldsucher oder Missionare eingeschleppt hatten. Andere waren wie
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