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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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er war hohlwangig und schweigsam geworden. Er nahm Moanie Balogna in sein Zimmer mit und setzte sie so in eine Ecke, daß sie zu seinem Bett hinübersehen konnte. Als er sah, wie seine Mutter die Puppe betrachtete, sagte er warnend: »Faß sie nicht an! Wag es bloß nicht!« In jener Welt mit Lichtern und Autos und Asphaltstraßen war sie tot. In dieser - in der Welt, die abseits des Appalachian Trail existierte, in der Krähen manchmal kopfüber an Ästen hingen - war sie dem Tode nahe. Aber sie ackerte weiter (wie ihr Vater gesagt hätte). Ihre Route wich manchmal leicht nach Osten oder Westen ab, aber nicht oft und nicht viel. Ihre Fähigkeit, eine gewählte Richtung stetig beizubehalten, war fast so bemerkenswert wie die Weigerung ihres Körpers, der Infektion in ihrem Rachen- und Brustraum völlig nachzugeben. Jedoch nicht so nützlich. Trishas Route führte sie langsam, aber stetig aus den dichter mit Dörfern und Kleinstädten besiedelten Gebieten heraus und tiefer in den kaminartigen Ausläufer von New Hampshire hinein.
    Das Ding in den Wäldern, was es auch sein mochte, begleitete sie auf ihrem Marsch. Obwohl sie vieles von dem verwarf, was sie fühlte und zu sehen glaubte, tat sie ihr Empfinden für das, was der Wespenpriester den Gott der Verirrten genannt hatte, niemals als unwesentlich ab; sie dachte nicht daran, die Kratzspuren an den Bäumen (oder übrigens auch den Fuchs ohne Kopf) als bloße Halluzinationen abzutun. Fühlte sie das Ding (oder hörte es auch -schon mehrmals hatte sie im Wald Zweige knacken gehört, während es mit ihr Schritt hielt, und zweimal hatte sie sein unmenschliches Grunzen vernommen), zweifelte sie nie daran, daß es sich wirklich in ihrer Nähe befand. Verließ das Gefühl sie, zweifelte sie nie daran, daß das Ding vorübergehend fort war. Sie und es waren jetzt miteinander verbunden; das würden sie bleiben, bis sie starb. Trisha glaubte nicht, daß der Tod noch lange auf sich warten lassen würde. »Gleich um die Ecke«, hätte ihre Mutter gesagt, nur gab es im Wald keine Ecken. Insekten und Sümpfe und jähe Felsabstürze, aber keine Ecken. Es war nicht fair, daß sie sterben würde, nachdem sie so zäh ums Überleben gekämpft hatte, aber diese Unfairneß machte sie jetzt nicht mehr so wütend. Um wütend zu sein, brauchte man Kraft. Man brauchte Energie. Beides besaß Trisha kaum noch. Auf halbem Weg über die Lichtung, die sich durch nichts von Dutzenden anderer unterschied, die sie schon überquert hatte, begann sie zu husten. Es tat tief drinnen in der Brust weh, so daß Trisha das Gefühl hatte, dort sitze ein großer Haken. Sie krümmte sich zusammen, hielt sich an einem vor ihr aufragenden Baumstumpf fest und hustete, bis ihr die Tränen aus den Augen sprangen und sie alles doppelt sah. Als der Husten endlich schwächer wurde und schließlich aufhörte, blieb sie zunächst vornübergebeugt stehen und wartete darauf, daß ihr beängstigendes Herzjagen langsamer wurde. Und daß die großen schwarzen Falter vor ihren Augen die Flügel zusammenklappten und dorthin verschwanden, wo auch immer sie herkamen. Nur gut, daß sie diesen Baumstumpf zum Festhalten gehabt hatte, sonst wäre sie bestimmt umgekippt.
    Dann fiel ihr Blick auf den Baumstumpf, und ihr Denken setzte abrupt aus. Trishas erster Gedanke danach war: Ich sehe nicht, was ich zu sehen glaube. Das ist wieder eine Täuschung, wieder eine Halluzination. Sie schloß die Augen und zählte bis zwanzig. Als sie ihre Augen wieder öffnete, waren die schwarzen Falter verschwunden, aber alles andere war unverändert. Der Baumstumpf war kein Baumstumpf. Er war ein Pfosten. Oben in sein graues, schwammiges Holz war ein rostroter Ringbolzen eingeschraubt.
    Trisha ergriff ihn, spürte seine gute, eiserne Realität. Dann ließ sie ihn los und betrachtete die Rostflecken an ihren Fingern. Sie griff ein zweites Mal danach und bewegte ihn vor und zurück. Ein Deja-vu-Gefühl beschlich sie wie zuvor, als sie sich im Kreis gedreht hatte, nur war es diesmal stärker und hing irgendwie mit Tom Gordon zusammen. Was ...?
    »Du hast davon geträumt«, sagte Tom. Er stand etwa fünfzehn Meter von ihr entfernt, hatte die Arme verschränkt, lehnte mit dem Hintern am Stamm eines Ahorns und trug seine graue Spielerkleidung für Auswärtsspiele. »Du hast geträumt, daß wir hierherkommen.«
    »Hab' ich das?«
    »Klar, weißt du's nicht mehr? Am spielfreien Abend unseres Teams. An dem Abend, an dem du Walt gehört hast.«
    »Walt...?«

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