Das Meer in seinen Augen (German Edition)

erzählen? Er bekam plötzlich das ungute Gefühl, dass Merlin auf seine Homosexualität anspielte. Vielleicht hatte er es ihm doch irgendwie angesehen? Mit einem Mal saß er vollkommen steif da. Mühsam presste er die Worte hinaus: »Was willst du denn wissen?«
    »Ach«, machte Merlin, »wie war es denn so in Hamburg an der Schule? Ihr seid ja offensichtlich viel weiter gekommen als wir hier.«
    Einigermaßen beruhigt erzählte David von seiner ehemaligen Schule. In der Tat waren sie dort ein gehöriges Stück weiter gekommen mit dem Lernstoff. Nach einer kurzen Pause fügte er völlig selbstvergessen noch an, dass er in Hamburg der Verlierer schlechthin gewesen war. Sofort schoss ihm die Hitze ins Gesicht. Warum hatte er das jetzt gesagt? Merlin würde sich nun sicherlich denken, dass er zu weichlich war, um sich gegenüber anderen durchzusetzen. Und dann würde es nicht mehr weit sein, bis er darauf kam, dass er schwul war. Angespannt saß er da und wartete auf Merlins Reaktion.
    »Also ich hatte auch zwei Schulen dabei, an denen es einfach nur grausam war«, sagte Merlin wider Erwarten völlig locker. »Manchmal hat man halt die Arschkarte.«
    David ließ sich erleichtert nach hinten aufs Bett fallen.

    26

    Merlin legte sich vorsichtig neben David, diesmal seitlich, damit er den Jungen ansehen konnte. In ihm kitzelte es wie verrückt. Er lag tatsächlich mit ihm in einem Bett, völlig ungezwungen. Es hatte etwas völlig Aufrichtiges. Trotzdem dachte Merlin darüber nach, dass sich ein normaler Junge doch wohl kaum auf ein fremdes Bett legen würde, wenn der noch unbekannte Mitschüler neben ihm saß, oder doch?
    David schloss die Augen. Er dachte über irgendwas nach, das konnte Merlin sehen.
    »Woran denkst du?«, fragte er leise, um den Jungen nicht aufzuschrecken. Er bemerkte, dass seine Stimme einen leicht intimen Klang bekommen hatte.
    »An nichts«, antwortete David und sah ihn kurz an. Dann schloss er seine Augen wieder. Einen Moment später sagte er: »Ich denke darüber nach, wie froh ich bin, nicht mehr in Hamburg auf die Schule zu müssen.«
    »War es so schlimm?« In Merlin liefen die zahllosen Übergriffe seiner Mitschüler ab, die er im Zuge der Schulwechsel über sich hatte ergehen lassen müssen. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass ein paar Schüler aus den höheren Klassen ihm die Hose ausgezogen hatten, um nachzuschauen, ob er nicht doch ein Mädchen war. Das war in der Fünften, als er kaum drei Wochen zur Schule ging.
    David antwortete nicht und Merlin beschloss, das Thema ruhen zu lassen. Er wollte nichts erzwingen. Wenn David irgendwann darüber reden wollte, würde er sich schon melden.
    »Hast du in Hamburg noch Freunde?«, fragte er stattdessen.
    »Nein«, antwortete David nach kurzem Zögern. »Ich scheine in solchen Dingen nicht sonderlich kompatibel zu sein.«
    Merlin konnte sein Lachen nicht zurückhalten. David sah ihn überrascht an.
    »Sorry.« Merlin winkte ab. »Ich bin doof. Wenn du nicht kompatibel bist - übrigens, geiles Wort -, was bitte bin ich dann?«
    David sah ihn ernst an. »Du hast immerhin Freunde, oder? Also, ich meine Linda.«
    »Ja, das stimmt«, sagte Merlin nachdenklich. Er konnte kaum glauben, dass David das ernst meinte. Hatte er denn nicht einen Vertrauten? Wahnsinnig kommunikativ war Merlin selbst auch nicht, aber wenn er sich vorstellte, dass er überhaupt niemanden hätte ... Er bemerkte, wie seine Hand automatisch zu David hinüberlangte und auf dessen Brustkorb zum Liegen kam. Noch während der Bewegung wünschte er sich, selbige wieder ungeschehen machen zu können. David zuckte, als Merlin seine Hand aufsetzte.
    »Wenn du - wenn du willst ...« Merlin war von seinem forschen Auftreten durcheinander. Aber er wollte David gern anbieten, dass er mit ihm reden konnte.
    David entzog sich seiner Berührung, indem er sich aufsetzte. Diese Reaktion nahm Merlin nun entgültig die richtigen Worte und er setzte sich ebenfalls wieder auf die Bettkante. Sie schwiegen. Nach einer Ewigkeit brachte Merlin endlich eine Entschuldigung hervor.
    »Tut mir leid, ich wollte nicht ...«
    »Schon in Ordnung.« David lächelte, aber es sah irgendwie nicht echt aus. »Bin wohl manchmal ein wenig empfindlich.«
    Merlin dachte über die Worte seiner Mutter nach. War das wirklich das Verhalten eines Schwulen, der nur Angst vor dem Coming Out hatte? Er konnte es sich kaum vorstellen. Vielmehr deutete alles darauf hin, dass David absolut nicht schwul war.
    »Ich