Das Mitternachtskleid
Schlüssel stibitzen dürfen«, sagte sie, während Rob Irgendwer einen Strohhalm ausspuckte.
»Ach nee? Der will dich doch weiter hier schmorn lassen! «
»Ja, ich weiß, aber er ist ein anständiger Kerl.« Ihre Antwort klang alles andere als überzeugend, was auch Rob Irgendwer nicht entging.
»Aber klaro doch, ’n anständiger Kerl, der dich einbuchtet, weil es ihm irgend so ne alte Hutschachtel befiehlt?«, stieß er wütend hervor. »Und was sagste zu der großen kleinen Triefnase in dem weißen Fummel? Ich dacht schon, wir müssten ihr ne Dachrinne untern Zinken montiern.«
»War das ne Wassernymphe?«, fragte der Doofe Wullie. Doch die Mehrheitsmeinung tendierte dahin, dass man ein schmelzendes Mädchen aus Eis vor sich gehabt hatte. Am Fuß der Treppe paddelte noch immer eine Maus um ihr Leben.
Tiffanys Hand wanderte fast wie von selbst in ihre Tasche, zog ein Stück Schnur heraus und legte es erst einmal auf Rob Irgendwers Kopf ab. Als Nächstes förderte sie ein interessantes Schlüsselchen zutage, das sie vor drei Wochen am Straßenrand gefunden hatte, ein leeres Blumensamentütchen und einen kleinen Stein mit einem Loch darin. Tiffany sammelte kleine Steine mit Loch immer auf, weil sie Glück brachten; sie trug sie so lange in ihrer Tasche mit sich herum, bis der Stoff durchgewetzt war und sie herausfielen, sodass nur noch die Löcher zurückblieben. So, das musste für einen improvisierten Wirrwarr reichen, bloß brauchte sie eigentlich noch etwas Lebendiges. Da sämtliche Käfer längst im Magen ihres Anwalts verschwunden waren, griff sie stattdessen auf ihn selbst zurück und band ihn behutsam in das Muster ein. Seine Drohungen, gerichtliche Schritte gegen sie einzuleiten, überhörte sie geflissentlich.
»Ich begreife nicht, warum Sie nicht einen von den Größten dafür hernehmen«, beklagte sich der Kröterich. »Denen gefällt so was!«
»Ja, aber hinterher zeigt mir der Wirrwarr meistens nur den Weg zur nächsten Kneipe an. Also lass dich – und mich – nicht hängen, okay?«
Die Ziegen kauten ungerührt weiter, während Tiffany den Wirrwarr hin und her schob und nach einem Anhaltspunkt suchte. Lätitia war nicht nur in Tränen aufgelöst, sondern auch am Boden zerstört gewesen. Sie hatte nicht den Mut gehabt, ihren letzten Gedanken laut auszusprechen, allerdings auch nicht verhindern können, dass er sich in Schlupfwörter verwandelte: »Das wollte ich nicht!«
Niemand wusste, wie ein Wirrwarr funktionierte. Aber dass er funktionierte, wusste jeder. Vielleicht allein dadurch, dass er einen zum Nachdenken brachte. Eventuell, indem er den Augen etwas zu tun gab, während man nachdachte, und Tiffany dachte: Es gibt auf dieser Burg noch jemanden, der magisch veranlagt ist. Der Wirrwarr verdrehte sich, die Kröte beschwerte sich, und der silberne Faden einer Schlussfolgerung wehte durch Tiffanys Zweite Gedanken. Sie blickte zur Decke. Der silberne Faden glitzerte, und sie dachte: Irgendjemand auf dieser Burg benutzt Magie. Jemand, dem das sehr leidtut.
Konnte es sein, dass dieses dauerblasse, dauerklamme Aquarellwesen Lätitia eine Hexe war? Eigentlich unvorstellbar. Doch wozu lange herumrätseln, wenn man sich auch einfach Gewissheit verschaffen konnte?
Es war ein netter Gedanke, dass die Barone des Kreidelandes im Laufe der Jahre mit so vielen Leuten so gut ausgekommen waren, dass sie ganz vergessen hatten, wie man jemanden richtig einsperrt. Das Verlies war zum Ziegenstall umfunktioniert worden, und der Unterschied zwischen einem Verlies und einem Ziegenstall ist der, dass man in einem Ziegenstall kein Feuer braucht, weil sich die Ziegen recht gut selber warm halten können. Aber in einem Verlies braucht man Feuer, wenn man will, dass es die Gefangenen angenehm warm haben, und wenn man seine Gefangenen nicht leiden kann, braucht man ebenfalls Feuer, damit sie es unangenehm warm haben. Um ihnen tüchtig einzuheizen. Oma Weh hatte Tiffany erzählt, dass es, als sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war, im Verlies alle möglichen schrecklichen Werkzeuge aus Eisen gegeben hatte, die zum größten Teil dazu gedacht waren, die Gefangenen Stück für Stück auseinanderzunehmen. Allerdings war kein Gefangener so böse gewesen, als dass man sie an ihm ausprobiert hätte. Außerdem war auf der Burg auch niemand versessen darauf, sie zu gebrauchen, weil man sich, wenn man nicht aufpasste, die Finger darin klemmen konnte. Also wurden sie allesamt an den Schmied zurückgeschickt und
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