Das Mitternachtskleid
schlechten. Aber du siehst alles ganz verschwommen, so als wäre es aus einem Buch. Oder aus einer Geschichte, die man dir als Kind erzählt hat. Habe ich Recht?«
Er starrte sie finster an, aber das Schlupfwort, das er gerade noch zurückhalten konnte, verriet ihr, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag.
»Das nennen sie die letzte Gabe«, sagte sie. »Es ist ein Teil des Seelentrosts. Den bekommt man, wenn es für alle das Beste ist, dass man sowohl die unerträglich schlimmen als auch die unerträglich schönen Dinge vergisst. Das erzähle ich dir, Hochwohlgeboren , weil Roland noch immer irgendwo in dir steckt. Bis morgen wirst du sogar das wieder vergessen haben, was ich dir eben anvertraut habe. Wie es wirkt, weiß ich auch nicht, aber es wirkt bei fast jedem.«
»Sie haben den Eltern ihr Kind weggenommen! Als ich heute Morgen ankam, wollten mich die Mickers sofort sprechen! Alle wollten mich heute Morgen sofort sprechen! Haben Sie meinen Vater getötet? Haben Sie ihm Geld gestohlen? Haben Sie versucht, den alten Micker zu erdrosseln? Haben Sie ihn mit Brennnesseln geschlagen? Haben Sie ihm Dämonen ins Haus geschickt? Ich fasse es selbst nicht, dass ich Ihnen diese Frage stelle, aber Frau Micker scheint fest davon überzeugt zu sein! Ich für meinen Teil weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll, vor allem, weil ja womöglich auch noch irgend so eine Elfenfrau in meinen Gedanken herumfuhrwerkt! Verstehen Sie das?«
Während Tiffany noch nach einer möglichst zusammenhängenden Antwort suchte, ließ er sich seufzend auf den uralten Schreibtischstuhl sinken.
»Man hat mir erzählt, Sie hätten sich mit einem Schürhaken in der Hand über meinen Vater gebeugt und Geld von ihm gefordert«, sagte er traurig.
»Das ist nicht wahr!«
»Würden Sie es mir denn sagen, wenn es so gewesen wäre?«
»Nein! Denn so ein ›wenn‹ würde es niemals geben! So etwas würde ich nie tun! Sicher, es kann schon sein, dass ich mich über ihn gebeugt habe …«
»Ah-ha!«
»Komm mir nicht mit einem Ah-ha, Roland! Komm mir ja nicht mit einem Ah-ha! Mir ist schon klar, dass man dir Sachen über mich zugetragen hat, aber die sind gelogen.«
»Haben Sie nicht gerade selbst zugegeben, dass Sie sich über ihn gebeugt haben, oder habe ich mich da etwa verhört? «
»Er wollte doch bloß, dass ich ihm zeige, wie ich meine Hände sauber halte!« Am liebsten hätte sie den Satz sofort wieder zurückgenommen. Natürlich war es die Wahrheit, doch was nützte das? Es klang nicht wahr. »Roland, ich verstehe ja – «
»Sie haben ihm keinen Beutel mit Geld gestohlen?«
»Nein!«
»Und Sie wissen auch nichts von einem Beutel mit Geld?«
»Doch, dein Vater hat mich gebeten, ihn aus der Eisentruhe zu nehmen. Er wollte – «
Roland fiel ihr ins Wort. »Wo ist das Geld abgeblieben?« Seine Stimme war kalt und ausdruckslos.
»Keine Ahnung«, antwortete Tiffany. Und als er weiterreden wollte, schrie sie ihn an: »Nein! Du hörst mir jetzt zu, verstanden? Du bleibst da sitzen und hörst mir zu! Ich habe deinen Vater fast zwei Jahre lang gepflegt. Ich mochte den alten Mann, und ich hätte ihm nie etwas angetan, genauso wenig wie dir. Er ist gestorben, weil es dafür an der Zeit war. Wenn diese Zeit gekommen ist, kann niemand mehr etwas tun.«
»Aber wozu ist die Magie dann gut?«
Tiffany schüttelte den Kopf. »Die Magie, wie du es nennst, hat ihm die Schmerzen genommen, und du kannst mir glauben, das hatte seinen Preis. Ich habe schon oft Menschen sterben sehen, und ich schwöre dir, dein Vater hatte einen schönen Tod. Er starb mit der Erinnerung an glückliche Zeiten. «
Roland liefen die Tränen über das Gesicht, und sie spürte, wie wütend es ihn machte, dass sie ihn so sah. Eine dumme Wut, als ob ihn seine Tränen als Mann und als Baron herabsetzten.
Er murmelte: »Können Sie mir diese Trauer nehmen?«
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Das möchte jeder von mir. Aber ich würde es nicht tun, selbst wenn ich es könnte. Diese Trauer gehört zu dir . Nur die Zeit und die Tränen können sie lindern; dazu sind sie da.«
Sie stand auf und nahm Amber bei der Hand, die den Baron aufmerksam beobachtete.
»Ich bringe Amber zu meinen Eltern«, sagte Tiffany. »Und du solltest mal richtig ausschlafen.«
Sie bekam keine Antwort. Er saß da und starrte wie hypnotisiert auf den Bogen Papier. Dieses fürchterliche Weib von einer Pflegerin, dachte sie. Ich hätte mir denken können, dass sie Ärger machen würde. Hetze
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