Das Mitternachtskleid
der Baron, und du hast dieser … dieser Kreatur befohlen, dein Land zu verlassen. Sie stört die öffentliche Ordnung. Muss ich dich, wenn sie sich weiterhin mutwillig weigert zu gehen, erst daran erinnern, dass ihre Eltern deine Lehensleute sind?«
Tiffany, in der es bereits wegen der »Kreatur« brodelte, war überrascht, als der junge Baron den Kopf schüttelte und sagte: »Nein, ich kann gute Lehensleute nicht dafür bestrafen, dass sie eine missratene Tochter haben.«
Missraten ? Das war ja noch schlimmer als Kreatur ! Wie konnte er es wagen … Und ihre Gedanken überschlugen sich. Er würde es nicht wagen. Seit sie sich kannten, hatte er sich noch nie etwas getraut, in all der Zeit, die sie für ihn Tiffany und er für sie Roland gewesen war. Es war eine seltsame Beziehung gewesen, vor allem deshalb, weil es eigentlich gar keine war. Sie hatten sich nicht zueinander hingezogen gefühlt, sondern eher, wie vom Lauf der Welt zueinander hingeschubst. Sie war eine Hexe und damit automatisch anders als die anderen Dorfkinder; er war der Sohn des Barons und damit automatisch anders als die anderen Dorfkinder.
Und dann hatten sie den Fehler gemacht, sich einzubilden, dass zwei Dinge, die anders waren, ein Gleiches ergeben würden. Es war für beide nicht angenehm gewesen, einsehen zu müssen, dass diese Rechnung nicht aufging, und auf beiden Seiten waren Worte gefallen, die besser ungesagt geblieben wären. Und vorbei war es damit auch nicht, weil es ja nie angefangen hatte, jedenfalls nicht richtig. Aber so war es für beide das Beste. Natürlich. Bestimmt. Ja, ja.
Doch in dieser ganzen Zeit war er nie so gewesen wie jetzt, nie so kalt, nie so dumm und kleinkariert. Aber Tiffany konnte sein Benehmen auch nicht einfach der grässlichen Herzogin in die Schuhe schieben, so gern sie das getan hätte. Nein, hier ging noch etwas anderes vor. Sie musste auf der Hut sein. Und während sie beobachtete, wie die anderen sie beobachteten, verstand sie auf einmal, dass ein Mensch dumm und klug zugleich sein konnte.
Sie hob ihren Stuhl hoch, stellte ihn genau vor seinen Schreibtisch, setzte sich hin, faltete die Hände und sagte: »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Hochwohlgeboren.« Sie wandte sich der Herzogin zu und verneigte sich: »Und bei Ihnen ebenfalls, Durchlaucht. Mein Benehmen war unziemlich. Es wird nicht noch einmal vorkommen. Vielen Dank.«
Die Herzogin gab lediglich ein Knurren von sich. Obwohl Tiffany ohnehin keine hohe Meinung von ihr hatte, sank sie mit dieser Reaktion in ihrer Achtung noch ein gutes Stück tiefer. Ein Knurren? Nach einer Kapitulation auf der ganzen Linie? Dafür, dass sie eine aufmüpfige junge Hexe gedemütigt hatte, hätte sie sich wirklich etwas Besseres einfallen lassen können – eine auf die Spitze getriebene Spitze beispielsweise. Wäre das etwa zu viel verlangt gewesen?
Der Blick, mit dem Roland Tiffany anstarrte, war schon nicht mehr perplex: Er war multiplex. Und als sie ihm gleich darauf auch noch mit den Worten »Möchten Sie jetzt die anderen Punkte abhandeln, Hochwohlgeboren?« das leicht zerknitterte Papier zurückgab, kam er aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Nachdem er den Bogen umständlich auf dem Schreibtisch glattgestrichen hatte, sagte er: »Da wären noch Punkt zwei: der Tod meines Vaters, und Punkt drei: der Diebstahl des Geldes aus seiner Schatulle.«
Tiffany verstörte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. »Sonst noch etwas, Hochwohlgeboren? Mir ist sehr daran gelegen, dass alles auf den Tisch kommt.«
»Roland, sie führt was im Schilde«, sagte die Herzogin. »Sieh dich vor.« Sie winkte den Wachen. »Und ihr seht zu, dass ihr euch ebenfalls vorseht.«
Die kühnen Recken, die nicht recht begriffen, wie sie noch wachsamer sein sollten, wo sie doch vor lauter Nervosität schon jetzt wachsamer waren als je zuvor, drückten den Rücken durch und nahmen die Schultern zurück.
Roland räusperte sich. »Ä-hem – dann wäre da noch Punkt vier: der Tod der Köchin, die ziemlich genau in dem Augenblick zu Tode stürzte, als Sie von ihr beleidigt wurden. Haben Sie diese Anklagepunkte verstanden?«
»Nein«, antwortete Tiffany.
Roland schwieg einen Augenblick. »Äh, und warum nicht?«
»Weil es keine Anklagepunkte sind, Hochwohlgeboren. Sie bezichtigen mich nicht offen des Diebstahls oder der Schuld am Tod Ihres Vaters und Ihrer Köchin. Sie knallen mir diese Vorwürfe einfach nur an den Kopf und hoffen wahrscheinlich, dass ich in Tränen ausbreche. Aber
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