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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Psy­choanalytiker. Wichtiger noch wäre wohl, Ihnen zu erklä­ren, daß der Sohn, den Sie im Augenblick haben, nicht mein Patient ist. Der Mann, dem ich momentan zu helfen versuche, ist sechsunddreißig Jahre alt und ist seit sechs Monaten bei mir in Behandlung.«
    Er sah so vernünftig und intelligent aus, daß Ellen ihren Verdacht nicht länger als eine Sekunde aufrechterhielt. In dieser einen Sekunde aber fragte sie sich, ob sich da nicht ein Verrückter an die Tür ihres Hauses verirrt hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte er und errötete leicht. »Ich erklä­re das alles nicht sehr gut. Tatsache ist, daß ich gerade da­bei bin, Ihrem Sohn durch eine schwere emotionale Krise hindurchzuhelfen. In der Welt, die ich gerade verlassen habe, ist er sechsunddreißig, leidet aber unter traumati­schen Verletzungen, die er schon vor langer Zeit erlitten hat. Sein Zustand ist ernst, und ich bin sicher, daß Sie mir so gut helfen werden, wie es Ihnen irgend möglich ist.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Es muß Ihnen da ein Fehler unterlaufen sein, Doktor. Mein Sohn ist erst drei Monate alt …«
    »Vielleicht sollte ich expliziter werden. In genau sieben­undzwanzig Jahren, von heute an gerechnet, Mrs. Angstrom, werden zwei Atomphysiker namens Lu Cheng und Robert Godowsky im Zusammenhang mit ih­ren Arbeiten auf dem Gebiet der atomaren Relativität eine beunruhigende Entdeckung machen – die Entdeckung nämlich, daß Reisen durch die Zeit nicht nur den Elektro­nen möglich sind, sondern auch größeren materiellen Ob­jekten einschließlich menschlicher Wesen. Drei Jahre spä­ter werden sie die erste brauchbare Zeitmaschine fertigge­stellt haben, die über die Fähigkeit verfügt, Materie in der Zeitspur sowohl zurück als auch nach vorn zu bewegen, wobei die einzige Grenze die Zukunft ist. Diese Maschine wird das am sorgfältigsten bewachte und das den streng­sten Vorschriften unterworfene Instrument sein, das der Mensch je konstruiert hat, und sie wird nur autorisierten, mit legitimen Forschungsarbeiten befaßten Personen zur Verfügung stehen, die während ihrer Reisen in die Ver­gangenheit genaueste Vorschriften zu befolgen haben. Zur Gruppe dieser Personen haben auch schon Historiker ge­hört, deren Bestreben es natürlich nicht ist, die von ihnen aufgezeichneten Ereignisse in irgendeiner Weise zu ver­ändern, sondern sie zu verifizieren. Und in allerjüngster Vergangenheit haben auch Mitglieder der medizinischen Zunft ihr angehört, insbesondere Psychoanalytiker. Ich bin sicher, daß Sie sich denken können, warum.«
    Ihr Kopf bewegte sich weiterhin von einer Seite zur an­deren.
    »Sicherlich sind Ihnen doch die Techniken der Analyse vertraut, Mrs. Angstrom; sie waren ja sogar zur heutigen Zeit schon allgemein bekannt. Die Quelle aller Neurosen liegt in der Vergangenheit eines Patienten, häufig sind sie tief in seiner Kindheit verwurzelt. Es war ein gewisser Dr. Hugo Breckmann aus Berlin, der als erster die Mög­lichkeit sah, einen Psychoanalytiker per Zeitmaschine die Vergangenheit seines Patienten aufsuchen zu lassen, damit er die Grundzüge des jeweiligen Problems besser verste­hen könnte. Etliche solcher Besuche sind schon durchge­führt worden; es ist noch zu früh, um mit Sicherheit sagen zu können, ob sie erfolgreich waren oder nicht, aber alles deutet darauf hin, daß es tatsächlich möglich ist, auf die­sem Wege eine Heilung zu beschleunigen. Und das, Mrs. Angstrom, ist der Grund, warum ich heute herge­kommen bin.«
    »Aus … aus der Zukunft?«
    »Ja«, sagte der Psychoanalytiker ernst. »Aus einer Zu­kunft, in der Ihr Sohn Jonathon ein sehr kranker junger Mann ist.«
    Ellens Sohn Jonathon, noch immer im Alter von drei Monaten, ließ derweil die Gegenwart wissen, daß er ein sich sehr unbehaglich fühlender junger Mann war. Sein Protestgeschrei durchdrang die Wand zwischen ihm und seiner Mutter, und Ellen flog aus ihrem Sessel hoch und eilte in Richtung Kinderzimmer. Sie bemerkte nicht ein­mal, daß Dr. Pepys ihr leise nachging, als sie ihren Sohn aus seinem Bettchen hochnahm.
    »Sei ruhig! Sei ruhig!« schrie sie, als Jonathons Gebrüll in Hysterie umzuschlagen drohte. Sie trug seinen nackten Körper zum Wickeltisch und fing an, die Windeln zu wechseln – eine Kunst, in der sie es nie zu großen Fertig­keiten gebracht hatte.
    »War er die ganze Zeit über so?« fragte Pepys. »Unbe­kleidet?«
    Sie schaute den Doktor wild an, und nur die Sicherheits­nadel zwischen ihren Zähnen

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