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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Polizei nicht, keiner. Sie wollte gerade zu einer Reise in die Karibik aufbrechen, einige ihrer Ge­päckstücke waren schon auf dem Schiff. Erinnerst du dich an Lucas, den Taxifahrer? Er kam heraus, um sie zum Bahnhof zu bringen, aber sie war nicht da. Sie war nir­gendwo.«
    »Ich nehme an, daß die Polizei die üblichen Quellen überprüft hat?«
    »Alles. Krankenhäuser, Leichenhäuser, überall. Lieute­nant Reese meint, daß ihr alles mögliche zugestoßen sein könnte. Sie könnte beraubt und ermordet worden sein; sie könnte ihr Gedächtnis verloren haben; sie könnte sogar ...« Tante Faith wurde rot. »Nun ja, ich würde das niemals glauben, aber Lieutenant Reese meint, sie könnte absicht­lich verschwunden sein – mit irgendeinem Mann.«
    Rowena hatte am Fenster gestanden und still ihren Whisky getrunken. »Ich weiß, was passiert ist«, sagte sie jetzt.
    David sah sie scharf an.
    »Sie ist ganz einfach weggegangen. Sie hat einfach die­ses düstere alte Haus und diese unheimliche kleine Stadt verlassen. Sie war das Alleinsein leid. Sie war die ganze Stadt leid, die nur darauf wartete, daß sie heiraten würde. Sie war’s müde, sich um Webstühle, Kredite und Schuld­verschreibungen zu sorgen. Sie war es leid, sie selbst zu sein. Dahin kann es mit einer Frau kommen.«
    Sie langte nach der Flasche, aber David hielt ihr Hand­gelenk fest. »Nicht«, sagte er. »Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen.«
    »Laß los«, sagte Rowena sanft.
    Er lächelte und ließ sie los.
    »Ich glaube, der Lieutenant hatte recht«, sagte Rowena. »Ich glaube, es gab da einen Mann, Tantchen. Einen ordi­nären Burschen. Vielleicht einen Minenarbeiter oder einen Fernfahrer, irgend jemand ohne den geringsten Charme.« Sie hob ihr Glas in Davids Richtung. »Ohne den gering­sten Charme.«
    Tante Faith stand auf, ihre rundlichen Backen waren fleckig.
    »David, ich habe eine Idee – ich meine, wie wir Geraldi­ne finden können. Ich bin mir meiner Sache ganz sicher.«
    »Wirklich?«
    »Aber du wirst mir nicht zustimmen. Du wirst mich nett anlächeln und dich über mich lustig machen. Aber ob du damit einverstanden bist oder nicht, David, ich werde Iris fragen, wo Geraldine ist.«
    Davids Augenbrauen hoben sich. »Wen fragen?«
    »Iris Lloyd«, sagte Tante Faith mit Festigkeit. »Erzähl mir bloß nicht, du hättest noch nie etwas von dem Mäd­chen gehört. Erst vor zwei Monaten stand etwas über sie in der Zeitung, und ich habe sie, weiß der Himmel, Dut­zende von Malen in meinen Briefen erwähnt.«
    »Ich erinnere mich«, sagte Rowena und trat vor. »Das ist das Mädchen, das … übersinnlich ist oder so was. Eine Art Waisenkind?«
    »Iris ist ein Mündel unter Amtsvormundschaft und lebt im Mädchenheim von Medvale. Ich bin schon seit einer Ewigkeit stellvertretende Vorsitzende des Trägervereins und weiß deshalb Bescheid. Sie ist sechzehn und erstaun­lich, David, höchst unheimlich!«
    »Verstehe.« Er verbarg ein amüsiertes Lächeln hinter seinem Glas. »Und was macht Iris zu einem solchen Phä­nomen?«
    »Sie ist eine Seherin, David, eine echte Hellseherin. Ich habe dir doch von diesem Grafen Louis Hamon erzählt, der, der sich Cheiro der Große nannte? Natürlich ist er schon tot, er starb 1936, aber er hatte die gleiche Gabe wie Iris. Er brauchte bloß die Spuren eines Menschen anzuse­hen und wußte schon die erstaunlichsten Dinge …«
    »Halt mal. Du glaubst wirklich, daß uns dieses Findel­kind sagen kann, wo sich Geraldine befindet? In so was wie einer Seance?«
    »Sie ist kein Medium. Ich glaube, man könnte sie wohl als Finderin bezeichnen. Sie scheint die Gabe zu haben, Dinge wiederzufinden, die verlorengegangen sind. Auch Menschen.«
    »Wie macht sie das, Mrs. Demerest?« fragte Rowena.
    »Das kann ich nicht sagen. Ich bin nicht einmal sicher, ob Iris selbst das zu sagen vermag. Diese Fähigkeit hat das arme Kind nicht glücklich gemacht – das tun solche Begabungen aber wohl selten. Zunächst schien alles nur ein Trick zu sein. Im Heim gab es die Schwester Theresa, eine ziemlich zer­streute alte Dame, die ständig ihren Fingerhut oder was weiß ich alles verlegte, und jedesmal konnte Iris die Sachen wie­derfinden – sogar an den unmöglichsten Stellen.«
    David lachte leise vor sich hin. »Manchmal verstecken Kinder auch Sachen an den unmöglichsten Stellen. Könnte sie nicht auch so was wie ein Witzbold sein?«
    »Aber es geschah ja noch mehr«, sagte Tante Faith ernst. »Eines Tages

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