Das Moskau-Komplott
überalterter internationaler Flughafen, war bislang von der Abrissbirne des Fortschritts verschont geblieben. Die rissige Rollbahn säumten beklagenswert aussehende Flugzeuge aus Sowjetzeiten, die nicht mehr ganz flugtauglich schienen, und das Gebäude selbst erinnerte mehr an eine Fabrikanlage oder ein Gefängnis als an ein Drehkreuz des modernen Luftverkehrs. Gabriel betrat das Terminal unter dem triefäugigen Blick eines jungen Milizionärs und wurde von einer Hostess, die über seine Anwesenheit verärgert zu sein schien, zur Passkontrolle geschickt. Mit nur geringfügiger Verzögerung wurde er offiziell ins Land gelassen und begab sich zur Gepäckausgabe, wo er die obligatorische Stunde warten musste. Als er seinen Rollkoffer schließlich von dem ratternden Karussell wuchtete, bemerkte er, dass dessen Reißverschluss halb offen stand. Er zog den Griff aus und suchte die Herrentoilette auf. Der dichte Zigarettenqualm dort raubte ihm fast die Sinne. Im gesamten Terminal galt striktes Rauchverbot, doch offensichtlich waren die Russen der Meinung, dass die Toiletten davon ausgenommen seien.
Ein Beschatter stand draußen, als Gabriel wieder herauskam. Sie gingen zusammen in die Ankunftshalle, wo Gabriel von einer groß gewachsenen Russin angesprochen wurde, die ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift UNESCO quer über ihren üppigen Busen trug. Sie klemmte ihm ein Namensschild ans Revers und führte ihn zu einem Bus, der draußen auf dem Rondell wartete. Sein Inneres, das bereits mit Delegierten gefüllt war, sah aus wie eine Miniaturausgabe der Generalversammlung. Gabriel nickte zwei Saudis zu, als er einstieg, und erntete nur leere Blicke. Weit hinten fand er noch einen freien Platz neben einem brummigen Norweger, der keine Zeit vergeudete und sogleich zu einer leisen Tirade über die unmenschliche Behandlung der Palästinenser durch Israel ansetzte. Gabriel hörte sich die Ausführungen des Diplomaten geduldig an, dann konterte er mit ein paar behutsam vorgetragenen Gegenargumenten. Zu dem Zeitpunkt, als der Bus auf dem verstopften Moskowskij Prospekt in Richtung Stadtmitte rollte, erklärte der Norweger, dass er das israelische Dilemma nun besser verstehe. Sie tauschten ihre Karten aus und gelobten, die Diskussion bei einem Abendessen fortzusetzen, wenn Natan Golani das nächste Mal nach Oslo komme.
Ein kubanischer Eiferer auf der anderen Seite des Gangs wollte die Debatte fortsetzen, wurde glücklicherweise aber von der Russin im roten UNESCO-Shirt unterbrochen, die jetzt, ein Mikrofon in der Hand, vorn im Bus stand und die Rolle der Reiseleiterin spielte. Ohne den leisesten Hauch von Ironie in ihrer verstärkten Stimme wies sie auf die Wahrzeichen an der breiten Ausfallstraße hin: die hoch aufragende Statue Lenins, der die Hand ausstreckt, als versuche er immerzu, ein Taxi anzuhalten, die ergreifenden Mahnmale des Großen Vaterländischen Kriegs, die mächtigen Tempel der sowjetischen Plan- und Kommandowirtschaft. Sie überging die heruntergekommenen Bürogebäude, die Wohnblocks aus der Breschnew-Ära, die unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzubrechen drohten, und die Ladengeschäfte, die von Konsumgütern überquollen, die der Sowjetstaat nie hatte bereitstellen können. Dies waren die Überbleibsel des Aberwitzes, den die Sowjets dem Rest der Welt hatten aufzwingen wollen. Im Bewusstsein der Neurussen von heute waren die mörderischen Verbrechen der Bolschewiken nur eine Zwischenstation auf dem Weg in ein Zeitalter russischer Größe. Die Gulags, die Grausamkeit, die ungezählten Millionen, die Hungers starben oder unterdrückt wurden - sie waren nur unliebsame Randerscheinungen. Niemand war je für seine Taten zur Verantwortung gezogen worden. Niemand war je für seine Sünden bestraft worden.
Der lange, hässliche Moskowskij Prospekt wich schließlich der importierten europäischen Eleganz des Stadtzentrums. Der erste Halt war das Hotel Astoria, das Quartier der Delegationen aus der Ersten Welt. Das Gepäck in der Hand marschierte Natan Golani mit seinen neuen Mitstreitern in Sachen Kultur in die reich geschmückte Lobby und reihte sich in die lange Schlange vor der Rezeption ein. Der Kapitalismus hatte Russland im Sturm erobert, aber der Begriff »Dienst am Kunden« offensichtlich noch nicht. Gabriel stand zwanzig Minuten an, ehe er endlich von einer flachsblonden Frau, die keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen ihn machte, mit sowjetischer Herzlichkeit abgefertigt wurde. Das halbherzige Hilfsangebot
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