Das Moskau-Komplott
blendete alle Geräusche um sich herum aus - Türenknallen, Befehlsgebrüll, die Schreie eines Mannes, der geschlagen wurde - und konzentrierte seine Gedanken ganz auf Olga Suchowa. War sie irgendwo in diesem Gebäude, fragte er sich, oder war sie aufgrund der »besonderen Umstände« ihres Falls woanders hingebracht worden? War sie überhaupt noch am Leben, oder hatte sie dasselbe Schicksal erlitten wie ihre Kollegen Aleksandr Lubin und Boris Ostrowskij? Den Namen, den sie ihm im Treppenhaus des »House of Dogs« genannt hatte, verbannte er in den hintersten Winkel seines Gedächtnisses und verbarg ihn unter einer Schicht Gesso und Grundierung.
»Elena war es... Elena hat mir von dem Warenverkauf erzählt. «
Elena?,
dachte Gabriel jetzt.
Was für eine Elena? Ich kenne keine Elena...
Schließlich hörte er, wie sich Schritte näherten. Markow erschien. Der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht verhieß eine unheilvolle Wendung der Ereignisse.
»Ihr Fall wurde einer anderen Dienststelle übertragen.«
»Was für eine Dienststelle denn?«
»Stehen Sie auf, dann Gesicht an die Wand und Hände auf den Rücken.«
»Sie werden mich doch nicht hier vor so vielen Zeugen erschießen, Markow.«
»Provozieren Sie mich lieber nicht.«
Gabriel tat wie geheißen. Zwei uniformierte Beamte traten in die Zelle, legten ihm wieder Handschellen an und führten ihn ins Freie zu einem wartenden Wagen. Die Fahrt ging durch ein Gewirr von Seitenstraßen, ehe sie schließlich auf einen breiten, leeren Prospekt einbogen. Ihr Ziel lag nun direkt vor ihnen, eine mit Flutlicht angestrahlte Festung aus gelbem Stein, die sich über einem flachen Hügel erhob.
Elena?,
dachte er.
Was für eine Elena? Ich kenne keine Elena.
18 FSB-Zentrale, Moskau
Das Eisentor der Lubjanka schwang langsam auf und ließ sie ein. Mitten auf einem großen Innenhof standen vier gelangweilt aussehende Offiziere schweigend in der Dunkelheit. Mit einer Schnelligkeit, die verriet, dass sie das nicht zum ersten Mal machten, zerrten sie Gabriel vom Rücksitz und trieben ihn über das Kopfsteinpflaster in das Gebäude. Das Treppenhaus lag praktischerweise nur wenige Schritte von der Eingangshalle entfernt. Kurz vor der ersten Stufe verpassten sie Gabriel einen kräftigen Stoß zwischen die Schulterblätter. Hilflos stürzte er in die Tiefe, überschlug sich einmal und blieb auf dem nächsten Absatz liegen. Ein kräftiger Hieb in die Nierengegend jagte ihm einen solchen Schmerz durch den Leib, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Ein gezielter Tritt in den Unterleib raubte ihm den Atem.
Sie rissen ihn wieder hoch und warfen ihn wie einen Sack die nächste Treppe hinunter. Diesmal richtete der Sturz selbst so großen Schaden an, dass sie sich weitere Tritte und Schläge sparen konnten. Sie stellten ihn erneut auf die Füße und schleppten ihn durch einen dunklen Gang, der sich endlos hinzuziehen schien. Bis zu den sibirischen Gulags, dachte Gabriel. Bis zu den Erschießungsplätzen vor den Toren Moskaus, wo Stalin seine Opfer zu »sieben Gramm Blei« verurteilte, seiner Lieblingsstrafe für Illoyalität, tatsächliche oder eingebildete.
Er hatte erwartet, dass sie ihn für einige Zeit in eine Einzelzelle sperren und es der blutgetränkten Geschichte der Lubjanka überlassen würden, seinen Widerstandswillen zu brechen. Stattdessen führten sie ihn geradewegs in einen Verhörraum und setzten ihn auf einen Stuhl vor einem rechteckigen Tisch aus hellem Holz. Auf der anderen Seite saß ein Mann in einem grauen Anzug und mit dazu passendem blassen Teint. Ob Absicht oder nicht, seine Ähnlichkeit mit Lenin war jedenfalls unverkennbar. Er war ein paar Jahre jünger als Gabriel - vermutlich Mitte vierzig - und unlängst geschieden worden, wie eine Einkerbung am Ringfinger seiner rechten Hand vermuten ließ. Gebildet. Intelligent. Ein würdiger Gegner. Ein Jurist in einem anderen Leben, obwohl sich nicht sagen ließ, ob er Verteidiger oder Staatsanwalt war. Ein Mann des Wortes, kein Mann der Gewalt. Gabriel konnte von Glück sagen. Wenn man bedachte, wo er sich befand und welche Mittel hier zu Gebote standen, hätte er es viel schlimmer erwischen können.
»Sind Sie verletzt?«, fragte der Mann auf Englisch und in einem Ton, der vermuten ließ, dass er an der Antwort nicht sonderlich interessiert war.
»Ich bin Diplomat des Staates Israel.«
»Das ist mir bekannt. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sie können mich Sergej
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