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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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achte Todsünde, die große Bremse, die am Ende das gesamte System zum Stillstand bringen würde, um es schließlich mangels Dynamik implosionsartig in sich selbst zusammenbrechen zu lassen. Mavick stellte sich vor, wie das aussehen könnte, und musste sogar lächeln. Eigentlich war es nicht zum Lachen, sondern zum Heulen.
    Aber sonst gab es keinen Grund zum Heulen. Und vielleicht würde es dem neuen Präsidenten sogar gelingen, der Krake ein paar Arme abzuschlagen. Jedenfalls hatte er ihnen wieder Mut gegeben, sie befreit aus der Zeit, als ihre ganze Sorge darauf zielte, den Feind zu beruhigen, ihn von ihrer Friedenssucht zu überzeugen und sich geistig selbst zu entwaffnen. Nun müsste jedem Idioten doch klar geworden sein, dass es endlich wieder darum ging, den Feind zu besiegen. Und sie in der Agency waren der Stoßtrupp, der die Schwächen des alten Drachen ausforschte, den es zu erlegen galt. Ein schönes Bild, fand Mavick.
    Er würde als Erstes Kontakte pflegen zu den Kollegen der verbündeten Firmen, den Briten, Franzosen, Westdeutschen. Vielleicht sollte er mit Letzteren beginnen. Deren gerade abservierter Kanzler, komischer Name für einen Regierungschef, hatte die neue Runde ja eröffnet, wenn er auch andere Absichten gehabt haben soll, als er vorschlug, amerikanische Mittelstreckenraketen in Westeuropa aufzustellen. Jetzt musste er gute Miene zum neuen Spiel machen und so tun, als wäre al les so, wie er es sich gedacht hatte. Die Abschreckung glaubhafter machen. Die Amerikaner nicht von Westeu ropa abkoppeln lassen. Mavick grinste. Vielleicht konn ten die Deutschen bald bei einem Krieg mitspielen und sogar mal als Sieger dastehen. Er lachte, kurz und trocken. Mavick kannte sich aus in der Geschichte und liebte ihre Ironien. Er hielt sich für einen dieser moder nen Intellektuellen, die alles dachten, die keine Verbote kannten, die sich nicht auf die intellektuelle Selbstverkrüppelung liberaler Spinner einließen. Wenn man den Feind dauerhaft schwächen, womöglich sogar ausschalten kann bei überschaubaren eigenen Verlusten, dann war der Nutzen höher als der Schaden. So einfach war die Rechnung, sofern man sein Hirn einmal befreite vom Ballast einer überholten Moral. Frieden als Selbstzweck bedeutete, in ewiger Gefahr zu leben. Warum die Bedrohung nicht ein für alle Mal beseitigen, wenn man es konnte? Ja, er würde mit den Westdeutschen anfangen, seine Chefs hatten in Pullach schon Klartext gesprochen.
    Es klopfte, die Tür öffnete sich. Eine unscheinbare Frau in undefinierbarem Alter, mit einem Gesicht, das er schon vergessen würde, bevor sie verschwunden war. »Der Herr Botschafter wünscht Sie zu sehen. Wenn es Ihnen recht ist.«
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    Nun hatte er lange genug gewartet in dieser Schmud delkneipe im GUM , nachdem der Zwerg verschwun den war. Henri ging aufs verdreckte Klo, überwand halbwegs den Ekel und zog die Papiere hervor. Es wa ren fünf Blätter, eng beschriftet in Russisch, auf dem ersten Blatt stand als Überschrift Projekt R-33. Das letzte Blatt endete unvermittelt, es gab also eine Fort setzung. An den Kanten zeigten schwarze Balken, dass die Seiten kopiert worden waren. Henri hatte das Gefühl, dass er wichtige Informationen in den Händen hielt, seine Aufregung wuchs. Er faltete die Blätter schnell zusammen und steckte sie nach kurzem Überlegen in seine Unterhose. Dann kehrte er in den Gastraum zurück, trank aus, zahlte bei der mürrischen Frau hinterm Tresen und ging. Draußen glänzte das Lenin-Mausoleum, der Regen hatte die Luft gewaschen, die Mauern und die Türme des Kreml sahen aus wie geputzt. Auf dem Boden des Roten Platzes dampften Schwaden. Henri überlegte, wie er am schnellsten zu seinem Wagen kommen könnte, entschied sich dann aber anders. Dort würden sie auf ihn warten, wo sonst? Er beschloss, mit der Metro zur Botschaft zu fahren. Er nahm die Linie 2 an der Station Majakowskaja und fuhr eine Station zur Belorusskaja. Er war froh, als er sich aus dem Waggon gequetscht hatte, die Luft war unerträglich, das Gedränge nervig. Er mühte sich, mit dem Menschenstrom zum Ausgang zu hasten. Als er die Station verlassen hatte, atmete er auf. Schnee fiel und verwandelte sich in Matsch. Henri ging um Pfützen herum, Tümpel auf dem Gehweg, und als er endlich die Botschaft erreicht hatte, überfiel ihn die Müdigkeit, welche die ganze Zeit von der Anspannung verdrängt worden war.
    »Wie sehen Sie denn aus?«, fragte Angela Morgenstern, als sie ihm im Flur

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